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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Hoffnung der Unglücklichen .... Ach Gott, ach Gott! Sah ich Sie darum jung werden, um Sie sterben zu sehen?
    Mitten unter diesen Ausrufungen, die ihm seine Anhänglichkeit und sein gutes Herz auspreßten, die Augen immer starr auf ihr Gesicht geheftet, glaubte er eine Bewegung zu bemerken: seine Einbildungskraft erhitzt sich; er sieht Julien die Augen zu ihm kehren, ihn anblicken, ihm mit dem Kopfe nicken. Er springt jauchzend auf, läuft durch das ganze Haus und schreit: Madame sei nicht todt, sie habe ihn erkannt, es sei ganz gewiß, sie werde wieder aufkommen. Mehr bedurfte es nicht; Alles stürzt herbei, Nachbarn, arme Leute, welche die Luft mit ihren Wehklagen erfüllten; Alle schreien: sie ist nicht todt! Das Gerücht verbreitet sich und wird vergrößert. Das Volk in seiner Liebe zum Wunderbaren faßt die Neuigkeit begierig auf; man glaubt sie, wie man sie wünscht; Jeder glaubt sich selbst ein Fest zu machen, indem er der allgemeinen Leichtgläubigkeit eine Stütze leiht. Bald hatte die Abgeschiedene nicht blos gewinkt, sie hatte sich gerührt, sie hatte gesprochen, und zwanzig Augenzeugen wußten genaue Einzelheiten, die nie wahr gewesen.
    Sobald man glaubte, daß sie noch lebe, machte man tausend Anstrengungen, um sie wieder zu sich zu bringen; man drängte sich um sie, rief sie an, bespritzte sie mit Spirituosen, fühlte, ob der Puls nicht wiederkäme. Ihre Frauen, voll Unwillen, daß der Leichnam ihrer Herrin von Menschen in so unordentlichem Aufzuge umringt war, ließen alle Welt hinausgehen, und überzeugten sich bald, daß man sich getäuscht hatte. Da sie sich aber nicht entschließen konnten, einen so lieben Irrthum zu zerstören, vielleicht noch selber auf ein Wunder hoffend, kleideten sie die Leiche sorgfältig, und obgleich die Garderobe ihnen vermacht war, verschwendeten sie den Putz an ihr, legten sie dann auf ein Bett, ließen die Vorhänge offen, und fingen an, mitten unter der allgemeinen Freude um sie zu weinen.
    Eben als dieser Aufruhr auf seinem Gipfel war, langte ich an. Ich sah bald ein, daß es unmöglich war, der Menge Vernunft zu predigen; hätte ich das Thor schließen und den Leichnam bestatten lassen,so hätte es Tumult geben können; wenigstens würde ich für einen mörderischen Gatten gegolten haben, der seine Frau lebendig begraben lasse, und würde zum Gräuel im ganzen Lande geworden sein. Ich beschloß zu warten. Indeß nach sechsunddreißig Stunden fing bei der außerordentlichen Hitze, die wir hatten, die Verwesung an bemerkbar zu werden, und obgleich die Züge des Gesichtes sanft und unverstellt geblieben waren, bemerkte man doch schon einige Spuren von Veränderung, Ich sagte es Frau v. Orbe, die halbtodt am Kopfkissen saß. Sie war nicht so glücklich gewesen, sich durch eine so grobe Täuschung äffen zu lassen, aber sie stellte sich, als glaubte sie daran, weil sie dadurch einen Vorwand gewann, beständig im Zimmer zu bleiben, sich das Herz recht abzunagen, es an dem tödtlichen Schauspiel zu weiden und sich im Schmerz zu sättigen.
    Sie verstand mich, und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Einen Augenblick nachher sah ich sie wieder eintreten, einen Schleier von Goldgewebe mit Perlen gestickt in der Hand, den Sie ihr aus Indien mitgebracht hatten
[Man sieht wohl, daß Saint-Preux's Traum, der Frau v. Orbe's Phantasie beständig beschäftigte, ihr diesen Gedanken eingab. Ich glaube, man würde bei der Erfüllung vieler Vorhersagungen, wenn man genau zusehen wollte, dasselbe Verhältniß entdecken. Das Ereignis ist nicht vorausgesagt, weil es eintreten wird, sondern es tritt ein, weil es vorausgesagt worden.]
; sie trat an das Bette, küßte den Schleier, und bedeckte weinend das Gesicht ihrer Freundin damit; dann rief sie mit durchdringender Stimme: Verflucht sei die schändliche Hand, die je diesen Schleier aufheben wird! verflucht das gottlose Auge, das dieses entstellte Gesicht anblicken wird! Diese Worte ergriffen die Umstehenden so, daß im Augenblicke, wie durch plötzliche Eingebung, dieselbe Verwünschung mit einhelligem Geschrei wiederholt wurde. Sie hat auf alle unsere Leute und auf das ganze Volk einen solchen Eindruck gemacht, daß die Verstorbene, in ihren Kleidern und mit der größten Vorsicht in den Sarg gelegt, so hinaus getragen und beerdigt wurde, ohne daß Jemand die Dreistigkeit gehabt hätte, den Schleier anzurühren
[DasVolk im Waadtlande ist zwar protestantisch, aber nichtsdestoweniger außerordentlich abergläubisch.]
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    Es ist das

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