Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
die Ehre und die Treue mehr die Tugendhaftigkeit dieses Herzens. Daher faßt das Herz, wenn es sich als tugendhaftes empfindet, seine höchsten Güter unter der Bezeichnung „Ehre und Rechtschaffenheit" zusammen: die Rechtschaffenheit ist die Treue gegen die Tugend, die Pflichttreue, also für den Tugendknecht die höchste Art der Treue gegen sich selbst; die Ehre ist nur das Gefühl, das er von seiner eigenen Rechtschaffenheit hat; so fallen Ehre und Rechtschaffenheit in einen einzigen Begriff zusammen.
    Der Inbegriff der ewigen Güter, das höchste Gut als solches ist der Friede der Seele. Ohne ihn ist kein Gut ein Gut.
    In der Wandelbarkeit des Herzens lag die Forderung ewiger Güter; sie aber müssen in dem wandelbaren Herzen selbst zu wandelbaren werden, und der Friede des Herzens ist ewig unerreichbar, ewig nur des Strebens Ziel. Theils ist die Erwerbung der Güter ungewiß, theils steht die Erhaltung nicht in der Macht des gebrochenen Herzens. Wenn sie aber durch ein unerhörtes Glück auch alle sein geworden, so kann es sie doch nicht alle zugleich und niemals in Vollkommenheit besitzen: die Keuschheit wird durch die Liebe, die Liebe durch die Treue, die Treue durch die Ehre, die Ehre wieder durch die Liebe, die Liebe durch die Keuschheit u.s.f. in ihrem Wesen verändert, die Rechtschaffenheit bewirkt die Erfüllung der Pflichten nur annäherungsweise, und der Friede stellt sich nimmer ein. Von den ewigen Gütern verspricht sich das Herz Befriedigung und findet sich getäuscht, denn die letzte Befriedigung, der Friede selbst, das höchste Gut entgeht ihm stets und weicht vor ihm, je mehr es sich demselben zu nähern meint, in immer weitere Ferne zurück. Das gepriesene unwandelbare Glück, dem nachgejagt wird, weil die irdischen Güter für blos scheinbare Güter gelten, erweist sich selber als ein bloßer Schein.
    *
    In der Welt, sagt das Herz, in der wirklichen Welt ist Alles nur Schein. Wo ist das Wahre? Die Güter, denen es nachjagt, hat es sich nicht nur als die ewigen, unwandelbaren statt der endlichen und vergänglichen, sondern auch als die ächten und wahren statt der scheinbaren, eiteln, falschen Güter dieser Welt erwählt.
    In der Welt ist Alles Schein. Der Genuß ist Schein, denn er liegt nur auf der schmalen Grenze zwischen dem Hunger und der Sättigung und ist in dem Augenblicke, da man ihn zu haschen meint, entschwunden. Daher die Welt ihre Genüsse von Grad zu Grad immer mehr verfeinert, und sich von Genuß in Genuß stürzt, ohne Befriedigung zu finden. Die Sittlichkeit der Welt ist nicht minder Schein. Das Recht steht im Dienste des Mächtigen oder Listigen und wird von ihm zur Unterdrückung des Schwachen und Einfältigen gebraucht. Die Stände der Welt drücken erlogene Unterschiede aus; sie richten sich nicht nach den natürlichen Verschiedenheiten der Menschen und nicht nach ihrem inneren Werthe, während sie doch Ehre und Unehre wirken. Die Ehe der Welt ist eine falsche Ehre, da sie nur von gewissen Uebereinkünften und eingeführten Formen abhängt, nur auf dem Vorurtheile, auf der veränderlichen Meinung beruht. Die Freiheit der Welt ist eine Scheinfreiheit, denn Jeder erwirbt sie nur auf Kosten der Anderen, nur indem er sich zum Herrn und Andere zu Knechten, sich zum Bevorzugten und Andere zu Benachtheiligten macht. Die Sitten der Welt sind Unsitten, denn sie bestehen nur in der Wahrung des Scheines. Die Wohlanständigkeit der Welt ist nur eine Maske des Lasters. Die Größe der Welt ist erlogene Größe, denn sie bringt in ihrem Prunk, im Luxus nur die menschliche Kleinheit und das menschliche Elend an den Tag. Die Tugend der Welt ist eine Paradetugend ohne sittlichen Gehalt, durch deren Uebung nur das ewige Urbild, das im Herzen wohnt, verdunkelt und verunstaltet, die Ordnung der sittlichen Triebe umgekehrt und die menschliche Natur herabgewürdigt wird.
    Gelingt es nun dem Herzen, in seiner eigenen Welt dem Scheine zu entgehen und die Wahrheit lauter herzustellen?
    Die sittlichen Gesetze, sagt es, sind unabhängig vom Volksbrauch.
    Ich fühle in mir sehr gut, was an sich selbst recht oder schlecht ist. — Wie, wenn du dich nun täuschest? — Ich bin auf meiner Hut. Zuerst hebe ich die falschen Unterschiede auf. Vor dem Auge der Moral sind alle Stände gleich: der Niedrigste und Aermste hat auf dieselben moralischen Rücksichten Anspruch wie der Reichste und Höchste. Vor dem Herzen sind alle gleich. Selbst meine Bedienten suche ich vor Herzeleid zu bewahren; ich nehme z. B.

Weitere Kostenlose Bücher