Julie oder Die neue Heloise
Vorstellungen und Stimmungen erlöst findet. Aber es ist eine Mehrheit von Gütern nicht ein einiges ewiges Gut. Es ist daher leicht unmöglich, den Besitz aller zugleich zu behaupten: sie schließen oft einander selbst aus. Daher müssen sie nach ihrem Werth geschätzt werden können: ewig sind sie alle, aber von verschiedenem Werth.
Unter den Gütern ist das ursprünglichste, dessen Erhaltung der Mensch sich selber schuldig ist, die Keuschheit oder Unschuld, die Reinheit des Herzens, die Mutter und beständige Hüterin aller Tugenden. Ihr Verlust ist niemals wieder gut zu machen. Sobald sie einmal dahin ist, frißt sogleich das Laster die Sele an. Und wenn das Laster auch nicht siegt, wenn das Herz auch der Tugend gerettet wird, so ist es doch von ewiger Reue und ewigem Schmerz genagt; dieser ewige Schmerz ist die einzigs Form, in welcher eine Art von Wiederherstellung der Herzensreinheit möglich ist.
Das zweite Gut, was der Mensch nicht von Hause aus hat, sondern das erworben werden muß, dessen Erwerbung aber ebenfalls zu den Pflichten des Menschen gegen sich selbst gehört, ist die Ehre. Die wahre Ehre ist diejenige, welche in der Selbstachtung ihre Wurzel hat. d. h. welche das Herz sich selbst zuspricht, von der es dann sagt, sie beruhe „auf den ewigen Grundlagen der Sittlichkeit." Die Sitten der Menschen sind wandelbar und mit ihnen ist das, was sie achten und zu ihrer Ehre machen, wandelbar; aber „die wahre Ehre ist nicht wandelbar, sie hat ihre ewige Quelle in dem Herzen des rechten Menschen und in der unveränderlichen Richtschnur seiner Pflichten." Die Ehre besteht darin, daß man der Tugend diene. Auch mit ihrem Verlust ist Alles verloren; Schande, wenn man sie auf sich geladen hat, ist ein unvertilgbarer Makel. Die einzig mögliche, aber doch immer nur scheinbare Wiederherstellung der Ehre geschieht durch Buße in ewiger Zerknirschung.
Unter den Gütern, welche in der Beziehung des Menschen zum Menschen wurzeln, ist das ursprüngliche die Liebe, d. h. jene ätherische, unsinnliche, unbegehrliche, dem reinen Herzen eigene Liebe, die Liebe des Herzens, das sich „auf ewig hingiebt." Diese Liebe ist an sich ewig, sie bedarf keiner Legitimation durch die Ehe: sie besteht in dem Gefühle, daß die „Bestimmung" zweier Wesen „ewig vereint" sei, wenn auch immer das Schicksal sie leiblich trenne. Der Verlust der Liebe ist nichts Strafbares; ihre Erhaltung liegt nicht in des Menschen Macht: es ist nur ein Unglück, sie zu verlieren. Aber entweiht, entheiligt kann sie werden, und das ist Sünde, Frevel. Der Zauber der Liebe ist dann unwiederbringlich dahin, und die Wiederherstellung, auch wieder eine scheinbare, ist nur möglich durch ewige Aufopferung für einander.
Das zweite Gut, das sich auf das Verhältniß der Menschen unter einander bezieht, und das der Mensch sich selbst schaffen muß, ist die Treue. Das Wort bindet: der Mensch muß sein Wort unverbrüchlich halten, aber er kann entbunden werden durch Den, dem er es gegeben hat. Jedoch von der inneren Treue des Herzens kann er durch nichts entbunden werden. Sie ist ein ewiges Gut des empfindsamen Herzens, ja, sie ist sein heiligstes Gut. Der Treubruch ist durch nichts zu büßen, als durch den Tod, wie Julie noch im Sterben bekennt. „Ich sterbe in der süßen Erwartung, mit dir in dem ewigen Aufenthalt vereinigt zu sein, zu glücklich, mit meinem Leben das Recht zu erkaufen, dich ewig ohne Schuld zu lieben, und es dir noch einmal zu sagen." Die höchsteTreue ist die gegen die höchste Pflicht selbst, die Treue gegen die Tugend, deren Bruch gar nicht wieder gut zu machen ist.
Für die verlorene Keuschheit findet sich Julie durch die Bewahrung ihrer inneren Ehre entschädigt. Also ist Ehre ein werthvolleres Gut als Keuschheit. Für den Verlust der inneren Ehre findet sich Laura durch ihre reine Liebe entschädigt. Also ist Liebe ein noch höheres Gut. Das höchste Gut ist die Treue, da Treue bis in den Tod auch für die aufgeopferte Liebe den süßesten Ersatz giebt. Diese Werthbestimmungen sind nicht so zu verstehen, als ob dem werthvolleren Gute das geringere geopfert werden dürfte, wie dies bei den Pflichten der Fall ist, deren eine der anderen im Collisionsfalle weichen muß. Die ewigen Güter sind vielmehr alle von absolutem Werth, aber dessenungeachtet doch eines immer köstlicher, d. h. dem empfindsamen und tugendhaften Herzen ein größeres Bedürfnis, als das andere. Die Keuschheit und die Liebe berühren mehr die Empfindsamkeit,
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