Julie oder Die neue Heloise
natürlichen Dinge verbraucht, verarbeitet. Die Natur des empfindsamen Herzens ist daher Unnatur, sein Mensch ein Unmensch, ein Wilder, ein rohes Thier, aber freilich kein gemeines Thier — es war Unrecht, Rousseau anzuklagen, daß er den Menschen zum grasenden Thiere machen wolle —, sondern ein Phatasiethier, ein Thier, das die natürlichen Dinge nicht nur mit den Sinnen, sondern mit dem Herzen, mit dem schauernden, wonnebebenden, entzückten Gefühle verschlingt. Die Natur ist diesem Herzen die Natur, die es nach seinem Sinne verwandelt hat, die Natur in der Phantasie, die geträumte Natur.
Je weniger künstliche Bedürfnisse der Mensch hat, d. h. Bedürfnisse, die der Verstand, die geistige Fähigkeit des Menschen schafft, desto fähiger ist er, die natürliche Natur zu genießen, d. h. (aus der Sprache des Herzens in die gemeine Sprache übersetzt) die Natur des Herzens, die geträumte Natur, welche keine anderen Bedürfnisse als die Herzensbedürfnisse befriedigt. Daher muß die Sorge für die äußeren Lebensbedürfnisse auf das geringste Maß eingeschränkt werden: die sinnlichen Bedürfnisse sollen nur insoweit befriedigt werden, als sie dazu dienen, dem Herzen das Dasein zu erhalten und ihm die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse möglich zu machen. Die natürliche Beschäftigung des Menschen ist der Ackerbau, das natürliche Gesellschaftsleben ist das Lebender patriarchalischen Familie. Das Land zu bauen, in süßer häuslicher Eintracht mit den Seinigen zu leben, in einem freien, schuldlosen Umgang, d. h. in einem Umgang nach des Herzens Gefallen, im Genuß von Annehmlichkeiten, die alle zugleich dem Nutzen dienen, oder vielmehr von nützlichen Gütern, die zugleich angenehm, d. h. dem Herzen wohlgefällig sind, in Gemächlichkeit ohne Prunk, d. h. ohne Aufwand für das Vergnügen Anderer, weil nur das Herz sich selbst befriedigen will — dies ist des Menschen natürliche Bestimmung, des Menschen natürlicher Beruf. Sich so zu beschränken, sich nur durch das Herz und dessen Bande binden zu lassen, dazu bestimmt und beruft ihn die Macht, durch welche das Herz allein gebunden sein will, das empfindsame Herz selber.
Von Natur giebt es nicht Herren und Knechte, von Natur sind alle Menschen gleich, nur unterschieden durch ihre natürlichen Beschaffenheiten, Geschlecht, Alter, Temperament, Fähigkeit und dergl., d. h. vor dem Herzen sind alle Menschen gleich. Die natürlichen Unterschiede macht das Herz zu unterschiedenen Banden. Die Freiheit im Stande der Natur ist Freiheit von den gebildeten, entwickelten Zuständen des menschlichen Lebens und von den Manieren und Vorurtheilen, welche diese beherrschen, aber vollständige Gebundenheit durch die herzlichen Verhältnisse. Der Naturzustand ist also nur das Gegenbild des Zustandes der vorhandenen civilisirten Welt; seine Freiheit ist Losgebundenheit von den vorgefundenen Culturformen, an deren Stelle das Herz seine eigenen Culturformen setzt; der Naturmensch ist der vom Herzen cilivisirte Mensch. Die äußerlichen Formen, welche als solche auch nur äußerlich binden, sind zu innerlichen, innerlich bindenden Mächten geworden. Sie sind alle hinüber gerettet in die Traumwelt des Herzens, alle erhalten, Vaterland, Ehe, Recht, Sitte, Anstand und wie sie heißen mögen, aber verklärt, d. h. verherzlicht, verinnigt; und aus wechselnden Formen, die man blos äußerlich zu respectiren hat, zu ewigen und heiligen Mächten, die man adorirt, gemacht. Ihre Verletzung ist nicht mehr Verbrechen, das Strafe nach sich zieht und abgebüßt wird, sondern Sünde, die nicht vergeben werden kann, und ewige Verdammniß.
Wenn sich das Herz dazu versteht, bei allem Dem dennoch auch Pflege der Künste und Wissenschaften, Einführung wandelbarer, menschlicher Gesetze, bürgerlicher Sitten u. dergl. zuzulassen, so geschieht dies nur aus Noth, um der verderbten Welt willen, um nicht das Uebel noch ärger zu machen, im Grunde aber mit dem geheimen Vorbehalt, diese Angelegenheiten und Institutionen durch sich selbst zu Grunde zu richten und auf ihrem geebneten Boden die Traumwelt des Herzens in der Wirklichkeit aufzubauen.
Alle irdischen Güter sind nur Mittel, deren sich das Herz bedient, um zum Genusse seiner ewigen Güter zu gelangen.
*
Ewige Güter müssen die „wahren Güter" des Herzes allesammt sein, weil das Herz sich nach solchen sehnt, in denen es sich von seiner eigenen Wandelbarkeit, von seinem unsteten Wesen, von seiner Bedingtheit durch trügerische
Weitere Kostenlose Bücher