Julie oder Die neue Heloise
Niemanden in ihre Zahl auf, gegen den einer vor den übrigen eine Abneigung hätte. Sodann verwerfe ich alle Tugend, die nur auf Anerkennung von außen berechnet ist oder die nur von der Meinung oder Mode abhängt, ich erkenne als Pflichterfüllung nur diejenigen an, die wirklich mein Herz leistet. Endlich erforsche ich mit Sorgfalt, welche Pflichten wahre Pflichten sind und ich hüte mich vor selbstgemachten Pflichten, z. B. vor solchen, die wir uns aussinnen, um das Gewissen zu beschwichtigen, wenn wir unsere wahren Pflichten verabsäumt haben, Bußübungen, Gelübde u. dgl. Die reine Moral legt uns wirkliche menschliche Pflichten genug auf, und wer in Wahrheit tugendhaft sein will, hat an ihnen genug zu tragen. Die innere Stimme, das Gewissen klärt mich über meine wahren Pflichten auf. Und durch ihre Erfüllung erwerbe ich die wahren Güter des Lebens.
Sehen wir denn zu. Das Herz macht die Keuschheit zu einem ewigen Gut. Julie hat ihre Keuschheit eingebüßt: das ewige Gut ist ihr verloren gegangen. Was thut das Herz? Es findet eine Aushülfe: Julie sieht das verlorene Gut als nicht verloren an, wenn ihr Geliebter im vollen Glanze der Tugend dasteht: seine Tugend wird dann ihr zugerechnet; sie Beide sind ja Eins, seine Ehre ist auch ihre Ehre. Es kommt daher darauf an, die Vereinigung auch äußerlich zu vollenden; Julie sucht ihre Heirat mit Saint-Preux zu erzwingen. Durch die Ehe würde der Verlust der Keuschheit unschädlich gemacht. Ja selbst die Heirat mit einem Anderen als dem, der sie geschwängert hat, leistet denselben Dienst. In der Kirche, da sie mit Wolmar getraut werden soll, sieht sie das bevorstehende heilige Bündniß als einen Stand an, der „ihre Seele reinigen und sie der Tugend zurückgeben soll." Auch andere Tugenden geben schon einigen Ersatz für die verlorene Tugend, besonders thut das die nicht ausgetilgte allgemeine Tugendliebe: so wenigstens tröstet Clara ihre Freundin. Man kann strafbar sein und die Tugend doch lieb behalten. Wer die Tugend noch lieb hat, für den ist noch nichts verloren. Er kann jeden Verlust wieder gut machen. Die Tugend stellt aus höherer Machtvollkommenheit auch die verlorene Keuschheit wieder her. Also nachdem das Herz die Keuschheit als ein ewiges Gut proclamirt hat, dessen Verlust unwiederbringlich sei, macht es die Ewigkeit dieses Gutes auch wieder zu einem Schein. Dem Herzen wird das nicht schwer: es kann von Allem absolviren: es hat die Macht zu binden und zu lösen.
So steht es mit der Ewigkeit der ewigen heiligen Güter. Wie steht es mit ihrer Heiligkeit? Die Treue ist heilig. Julie bricht ihrem Geliebten die Treue. Warum? Aus Treue. Aus kindlicher Treue. Weil die Treue so heilig ist, muß die Treue gebrochen, das Heilige verletzt werden. Die Treue hebt sich selbst auf. Aber die Keuschheit ist ihr noch heiliger. Julie schlägt die Keuschheit höher an, als die Treue; erst waren die beiden Liebenden, sagt sie, keusch, setzten ihre Ehre in die Besiegung ihrer selbst; sodann, nachdem ein schwacher Augenblick sie irregeführt hatte, waren sie „wenigstens" noch treu. Dagegen sagt Saint-Preux: daß Julie ihre Keuschheit geopfert, das könne sie nicht entehren, denn sie sei darin dem „heiligsten Gesetze der Natur" gefolgt; entehrend würde nun nur ein Treubruch sein. Saint-Preux schlägt natürlich in seinem Interesse die Treue höher an, als die Keuschheit. Auch später noch wirft er Julien bei Gelegenheit ihren Treubruch als einen Frevel vor, und rühmt sich, daß er, wenn er auch Alles verloren, doch wenigstens „seine Treue" bewahrt habe. Ei was, sagt Julie dagegen, Saint-Preux könne sich gar nicht mehr für gebunden achten, da bei der Bewahrung seiner Treue Niemand mehr interessirt sei. Also die Treue an sich ist bald heilig, bald nicht heilig. Ist die Treue heilig, so durfte Julie sie nicht brechen, und dadurch, daß sie diesen Frevel begangen hat, erlangt Saint-Preux kein Recht, ihn ebenfalls zu begehen; denn nicht um ein gegebenes Wort handelt es sich, sondern um die Treue selbst. Betrachten wir aber auch nur das gegebene Wort! Saint-Preux soll dessen entbunden sein. Wie konnte er entbunden werden? Das gegebene Wort ist ja ebenfalls an sich heilig. Clara erklärt: dem Worthalten müsse alles Andere hintangesetzt werden. Julie geht im Worthalten so weit, daß sie dem gegebenen Worte ihre Keuschheit opfert und dem Geliebten eine versprochene Nacht gewährt. Dagegen wird aber auch wieder behauptet: ein gegebenes Wort, selbst ein Gelübde sei in
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