Julie oder Die neue Heloise
die ich nicht selbst gemacht, die ich nicht einmal mit beschlossen oder genehmigt habe? Hinweg mit dem Vorurtheil, mit dem Zwange! Freiheit, Freiheit!
Freiheit, was ist das? Ungebundenheit! Man muß Ungebundenheit sehr sorgfältig von Unabhängigkeit unterscheiden, Unabhängigkeit ist natürliches Verhältniß, Gebundenheit ein geistiges, künstliches. Keine Abhängigkeit ist unbedingt, und alle Abhängigkeit ist gegenseitig. Unser Dasein hängt von den Elementen, von dem Dasein anderer Wesen, von der Befriedigung unserer Bedürfnisse, von unzähligen Bedingungen ab; diese Abhängigkeit ist verschwunden, indem wir da sind, die Bedürftigkeit wird beständig gebrochen, indem wir unsere Bedürfnisse befriedigen. Das, wovon wir abhängen, machen wir zugleich von uns abhängig: die Luft, von der unser Leben abhängt, athmen wir, die Speise, von der unsere Erhaltung abhängt, verzehren wir. Ich hänge von einem Herrn ab, aber auch der Herr hängt von mir, von meinen Diensten ab. Wenn ich nicht Knecht bin, so ist er nicht Herr. Anders ist die Gebundenheit; Gebundenheit ist unbedingt und nicht gegenseitig. Gegen das, was mich bindet, bin ich, solange es mich bindet, ohnmächtig; nur wenn das Band zerrissen ist, bin ich frei. Wenn mich Andere gebunden haben, kann ich, wenn ich stark genug bin, die Bande zerreißen, dann bin ich ihrer ledig, bin von ihnen frei.
Die Freiheit also, die zunächst erstrebt wird, ist Freiheit von den Banden, in welche sich das empfindsame Herz durch die hervorgebrachten Vorurtheile, die es nicht theilt, und durch die ohne seine Zustimmung, ohne sein Mitgefühl bestehenden Einrichtungen geschlagen findet.
Das Herz will frei sein von den Banden. Will es frei von allen Banden, gänzlich ungebunden sein? Nein, die Gebundenheit kann es noch nicht überwinden; nur von dieser Gebundenheit, in die es sich versetzt findet, will es frei sein: gegen diese richtet es seinen Kampf, nicht gegen die Gebundenheit überhaupt. Es will sich selbst eine Bande machen, sich selbst binden, es will gebunden sein, und zwar durch Bande, die unauflöslich sind, aber durch Bande, die es sich selbst geschaffen oder doch anerkannt hat.
Soll das Herz sich gebunden fühlen, so müssen die Bande solche sein, die es als nothwendige anerkannt; machte es sie nur nach seiner Willkür, so wäre das ein Spiel, das Herz wäre nicht wirklich gebunden. Die Gebundenheit setzt eine bindende Macht voraus. Die Macht der Menschen erkennt das Herz nicht an — die Menschen sind nur seines Gleichen —, es sucht also eine höhere Macht. An welche andere Macht könnte es denken, als an die Natur? In Allem, was ist, offenbart sich die Natur als zwingendes Gesetz, als Macht; das Thier folgt bewußtlos dem Triebe der Natur; der Mensch soll mit Bewußtsein ihrem Gebote folgen. Was gebietet sie? Es gilt, die Natur zu erkennen. Der Mensch, in seiner Freiheit, hat die Natur verunstaltet; man muß sie in ihrer Reinheit wiederherstellen. Man muß frei werden von der Unnatur und sich nur durch die Natur binden lassen; man muß Alles wegwerfen, was der Mensch dem Menschen auferlegt hat, Sitten, gesellschaftliche Formen, gesellige Bedürfnisse, Künste, Wissenschaften. Das ist der Sinn der Rousseau'schen Rückkehr zum Naturzustande.
Mit Recht ist dem Prediger des Naturzustandes, theils mit Spott, theils in pedantischen Widerlegungen von seinen Zeitgenossen vorgehalten worden, daß die vorgebliche Rückkehr zur Natur nur eine Verwilderung, und der sogenannte Naturzustand der Zustand der Unnatur wäre.
Die Natur, welche das empfindsame Herz als Natur liebt, ist die wilde Natur. Schaurige Naturbilder sagen ihr am meisten zu: „ein öder, wilder Ort, voll von Schönheiten jener Art, die nur empfindsamen Stelen gefallen und anderen grausig scheinen", oder eine „wüste köstliche Insel." Solche Orte geben ihm „ein rührendes Bild der ursprünglichen Schönheit der Natur", sind wie dazu geschaffen, „Asyle" zu sein „der verfolgten Unschuld und Liebe" oder eines liebenden Paares, das allein „dem Umsturz der Natur entronnen." Das empfindsame Herz vergißt, daß es von der Natur abweicht. Unnatürliches schafft, wenn es den Menschen in die wilde Natur versetzt, da es Naturgebot ist, daß jedes Wesen seinen Fähigkeiten gemäß, Alles was es erreichen kann und was ihm zusagt, verbrauche und verzehre, und da der Mensch von Natur nicht blos mit den Augen, dem Munde und den übrigen Sinnen, sondern auch mit der schaffenden und bildenden Kraft die
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