Julie oder Die neue Heloise
verwandelt er alle meine Wehmuth in Wuth; der Grimm jagd mich von Höhle zu Höhle; unwillkührlich stoße ich Gestöhn' aus und schreie laut; ich brülle wie eine gereizte Löwin; ich bin zu Allen fähig, nur nicht dich aufzugeben; und es giebt nichts, nein, nichts, was ich nicht thäte, um dich zu besitzen oder zu sterben.
Hier war ich mit meinem Briefe und erwartete nur eine sichere Gelegenheit, um ihn Ihnen zu schicken, als ich von Sion den letzten erhielt, den Sie mir von dort geschrieben haben. Wie hat der Trübsinn, den er athmet, dem meinigen wohlgethan! Wie fand ich darin ein schlagendes Beispiel dessen, was Sie mir sagten von der Uebereinstimmung unserer Seelen in der Ferne! In Ihrer Betrübniß, ich gestehe es, ist mehr Geduld; die meinige ist heftiger; aber es muß ja auch das nämliche Gefühl seine Färbung von den Charakteren annehmen, in denen es wirkt, denn es ist so natürlich, daß der größte Verlust die größten Schmerzen verursacht. Was sage ich, Verlust? Ha! wer könnte ihn ertragen! Nein, erkennen Sie es endlich, o meine Julie! ein ewiger Beschluß des Himmels hat uns für einander bestimmt; dies ist das vornehmste Gesetz, dem man gehorchen muß; dies die vornehmste Sorge des Lebens, sich demjenigen Wesen zu verbinden, welches es uns versüßen soll. Ich sehe wohl, ich sehe es mit Seufzen, du verwirrt dich in deinen eitlen Plänen, du willst Schranken überspringen, die unübersteiglich sind, und vernachlässigst die einzigen möglichen Mittel; die Begeisterung für das, was ziemlich ist, raubt dir die Besinnung und deine Tugend ist nur noch ein Wahnsinn.
Ach, wenn du immer jung und schön bleiben könntest wie jetzt, so würde ich um nichts den Himmel bitten, als dich ewig glücklich zu wissen, dich nur einmal jedes Jahr in meinem Leben zu sehen, ein einziges Mal und meine übrigen Tage damit hinzubringen, von ferne deinen Wohnsitz zu betrachten, unter diesen Felsen dich anzubeten. Aber, ach! siehe den schnellen Lauf dieses Gestirns, das nimmer still steht; es fliegt dahin und die Zeit entflieht, die Gelegenheit entrinnt: deine Schönheit, deine Schönheit selbst wird ihrvZiel haben; sie muß abnehmen und einst welken wie eine Blume, welche dahin sinkt, ohne gebrochen zu sein; und ich indessen seufze, leide, meine Jugend verzehrt sich in Thränen und verblüht im Schmerz. Bedenke, Julie, bedenke, daß wir schon nach Jahren die für den Genuß verlorene Zeit zählen können. Bedenke, daß sie nicht wiederkehren werden; daß es mit denen ebenso sein wird, die uns noch übrig sind, wenn wir sie wieder entschlüpfen lassen. O blinde Geliebte! Du suchst ein erträumtes Glück für eine Zeit, wo wir nicht mehr sein werden; du hast eine entfernte Zukunft im Auge und siehst nicht, daß wir uns unaufhörlich verzehren, und daß unsere Seelen, erschöpft von Liebe und Schmerz, zerfließen und verrinnen wie Wasserbäche.
[Sicut aqua effusus sum. (Ich bin ausgeschüttet wie Wasser.) Psalm XXII, 15 – Omnes morimur et quasi dilabimur in terram. (Wir sterben des Todes, und wie das Wasser in die Erde verschliefet, das man nicht aufhältII. Reg. (Samuel) 14, V. 14.]
Kehre um, noch ist es Zeit, kehre um, meine Julie, von diesem verderblichen Irrthum. Laß deine Pläne fahren und sei glücklich! Komm, meine Seele du, komm, in den Armen deines Freundes die beiden Hälften unseres Wesens zu vereinigen: komm, um im Angesichte des Himmels, der unsere Flucht leite und Zeuge unserer Schwüre sei, einander Treue in Leben und Tod zu schwören. Du, o, ich weiß es wohl, du hast nicht nöthig, daß man dich über die Furcht vor Dürftigkeit erst noch beruhige. Laß uns glücklich und arm sein, ach! welchen Schatz werden wir gewonnen haben! Aber laß uns nicht der Menschheit diesen Schimpf anthun, zu glauben, daß die ganze Erde keinen Zufluchtsort für zwei unglücklich Liebende haben werde. Ich habe Arme, ich bin rüstig; das mit unserer Arbeit erworbene Brot wird dir köstlicher dünken als die Leckerbissen der Schmäuse. Kann eine Mahlzeit, welche die Liebe würzt, je unschmackhaft sein? O, meine zärtliche, theure Geliebte! sollten wir auch nur einen einzigen Tag glücklich sein, willst du denn dieses kurze Leben verlassen, ohne das Glück geschmeckt zu haben?
Ich habe Ihnen nur noch Ein Wort zu sagen, Julie! Sie kennen den alten Dienst des Felsens der Leucate, der letzten Zuflucht so vieler unglücklich Liebenden. Dieser Ort hier gleicht ihm in vieler Hinsicht: der Felsen ist steil, das Wasser ist tief und
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