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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Dürrwind
[Séchard, Nordost.]
und der grimmige Nord häufen Schnee und Eis, und die ganze Natur ist meinen Augen todt, wie die Hoffnung im Grunde meiner Seele.
    Unter den Felsen an diesem Strande habe ich in einem einsamenWinkel eine kleine Bergplatte entdeckt, von wo man die ganze Stadt überblickt, die glückselige Stadt, in der Sie wohnen. Denken Sie, mit welcher Gierde meine Augen nach dem geliebten Orte späheten. Den ersten Tag machte ich unsägliche Anstrengungen, um Ihre Wohnung heraus zu erkennen; aber die große Entfernung machte es mir unmöglich, und ich nahm wahr, daß meine Einbildungskraft die ermüdeten Augen zum Besten halte. Ich lief zu dem Pfarrer, um mir ein Fernglas zu leihen, mit dessen Hülfe ich Ihr Haus sah oder zu sehen glaubte; und seitdem bringe ich die ganzen Tage damit hin, an dieser verborgenen Stätte nach den glücklichen Mauern zu schauen, welche den Quell meines Lebens umschließen. Ungeachtet der Jahreszeit gehe ich früh Morgens hin und kehre erst bei der Nacht heim. Laub und etwas dürres Reis, das ich anzünde, dient mir, nächst Auf- und Niederlaufen, mich vor der scharfen Kälte zu wahren. Ich habe mich so in diesen wilden Ort verliebt, daß ich sogar Tinte und Papier hinnehme; und ich schreibe dort jetzt diesen Brief auf einem Block, den der Frost vom nächsten Felsen losgesprengt hat.
    Dies ist der Ort, meine Julie, wo dein unglücklicher Liebster vielleicht die letzten Tropfen der Freude trinkt, die ihm in dieser Welt bescheert war. Von da aus erkühnt er sich, durch die Luft und Mauern hindurch verstohlen bis in dein Gemach zu dringen. Deine lieblichen Züge treffen noch sein Auge; deine zärtlichen Blicke beleben noch sein sterbendes Herz; er vernimmt den Ton deiner süßen Stimme, wagt noch einmal in deinen Armen jenen Wahnsinn zu suchen, der ihn damals in jenem Gebüsche trunken machte: Eitles Trugbild einer aufgeregten Seele, die in ihrer Sehnsucht irre schweift! Bald gezwungen, wieder zu mir selbst zu kommen, will ich dich wenigstens in allen Einzelheiten deiner unschuldigen Lebensweise mir vergegenwärtigen: ich folge von fern deinen verschiedenen Beschäftigungen den Tag über, und stelle sie mir zu den Zeiten und an den Orten vor, wo ich manchmal so glücklich war ihr Zeuge zu sein. Stets sehe ich dich Verrichtungen nachgehen, die dich immer schätzenswerther machen, und mein Herz geht auf in Entzücken über die unversiegliche Güte des deinigen. Jetzt, sage ich mir am Morgen, erwacht sie aus friedlichem Schlummer; ihre Farbe hat die Frische der Rose, ihre Seele ist voll stiller Heiterkeit; sie bringt Dem, der ihr das Dasein gegeben, einen Tag zum Opfer, der für die Tugend nicht verloren sein wird. Jetzt geht sie zu ihrer Mutter; die zärtlichen Gefühle ihres Herzens ergießen sich gegen die Urheber ihrer
    tage, sie ist ihnen behülflich bei den Mühwaltungen, die das Haus erfordert; sie erwirkt vielleicht Einem von der Dienerschaft, der unbesonnen war, Verzeihung, sie ertheilt vielleicht Ermahnungen im Stillen; sie erbittet vielleicht eine Gunst für irgend einen anderen. Zu einer andern Zeit beschäftigt sie sich ungelangweilt mit den Arbeiten ihres Geschlechtes; sie schmückt ihre Seele mit nützlichen Kenntnissen; sie fügt ihrem angeborenen Schönheitssinn die Ausbildung in den schönen Künsten und die im Tanze ihrer natürlichen Grazie hinzu. Bald sehe ich einen geschmackvollen und einfachen Putz Reize zieren, die dessen nicht bedürfen. Hier sehe ich sie einen ehrwürdigen alten Hirten über den nicht bekannten Kummer einer dürftigen Familie befragen; dort der betrübten Witwe oder der verlassenen Waise Trost oder Hülfe bringen. Bald entzückt sie eine achtbare Gesellschaft durch ihre sinnigen und sittsamen Reden; bald ruft sie, im Schäfern mit den Freundinnen, eine junge Ausgelassene zu dem Tone der Artigkeit und Schicklichkeit zurück. Einige Augenblicke, ach, verzeihe, wage ich selbst mit mir dich beschäftigt zu sehen: ich sehe deine Augen mit Rührung einem meiner Briefe durchlaufen: ich lese in ihrem sanften Schmachten, daß die Zeilen, welche du schreibst, an den beglückten Geliebten gerichtet sind; ich sehe, daß er es ist, von dem du so zärtlich bewegt mit deiner Cousine sprichst. O Julie, meine Julie! Und wir sollten nicht vereinigt sein? Unsere Tage sollten uns nicht mit einander verfließen? Und wir könnten auf ewig getrennt werden? Nein! O, möge sich nie dieser schreckliche Gedanke meinem Geiste darbieten! In einem Augenblick

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