Juliet, Naked
eigentlich längst getroffen hatte. Er hätte hinter eine Hecke gehen können; er hätte auf der Stelle zurück zur BART-Station
laufen, ein Café suchen und dann zurückkommen können. Was er wiederum nicht getan hätte, denn er hatte bereits alles gesehen,
was es zu sehen gab. Das war der Kern des Problems. Wenn etwas mehr … geboten würde für Leute wie ihn, müssteer sich nicht selbst in Begeisterung versetzen. Es hätte sie ja wohl nicht umgebracht, irgendwie auf die Bedeutung des Ortes
hinzuweisen. Mit einer unauffälligen Gedenktafel oder so. Er hatte nicht mit der Alltäglichkeit von Juliets Haus gerechnet,
genauso wenig wie er auf die übelriechende Funktionalität des Männerklos in Minneapolis vorbereitet gewesen war.
»Eine Meile oder zwei? Ich weiß nicht, ob ich’s so lange aushalte.«
»Ganz wie Sie wollen.«
»Wo ist der Schlüssel?«
»Ein Ziegel in der Veranda ist lose. Ganz unten.«
»Und bist du sicher, dass er da noch ist? Wann hast du das letzte Mal nachgesehen?«
»Ganz ehrlich? Ich war kurz bevor Sie kamen drin. Ich habe aber nichts weggenommen. Ich kann es nur nie fassen, dass ich wirklich
in Juliets Haus stehe, verstehen Sie? Mensch, Juliet, Alter!«
Duncan wusste, dass er und Elliott verschieden waren. Elliott hatte gewiss noch nie etwas über Crowe geschrieben – und wenn
doch, wäre der Text höchstwahrscheinlich unlesbar gewesen. Außerdem bezweifelte Duncan, dass Elliott über die emotionale Reife
verfügte, die atemberaubende Vollkommenheit von »Juliet« zu würdigen (eine LP, die, was Duncan anging, eine pessimistischere,
abgründigere und besser ausgearbeitete Sammlung von Songs war als das überschätzte Blood On The Tracks ), und er wäre ebenso wenig in der Lage aufzuzählen, von wem und was Crowe beeinflusst worden war: Dylan und Leonard Cohen
natürlich, aber auch Dylan Thomas, Johnny Cash, Gram Parsons, Shelley, dem Buch Hiob, Camus, Pinter, Beckett und die frühe
Dolly Parton. Aber Menschen, die all das nicht begriffen, könnten womöglich zu der irrigen Annahmekommen, sie wären irgendwie verwandte Seelen. Zum Beispiel verspürten sie beide das Bedürfnis, im Haus der verdammten Juliet
zu stehen. Duncan folgte Elliott die kurze Auffahrt hoch zum Haus, sah zu, wie der Junge nach dem Schlüssel tastete und die
Tür aufschloss.
Im Haus war es dunkel – alle Rollläden waren heruntergelassen – und es roch nach Räucherstäbchen oder irgendeiner exotischen
Duftmischung. Duncan hätte das nicht lange ausgehalten, aber vermutlich flatterten Julie Beatty und ihrer Familie auch nicht
die ganze Zeit die Nerven, wenn sie zu Hause waren, so wie bei Duncan jetzt. Der Geruch verstärkte seine Angst, und er fragte
sich, ob er sich wohl übergeben müsse.
Er hatte einen Riesenfehler gemacht, aber jetzt war es passiert. Er war im Haus, und selbst wenn er die Toilette nicht benutzte,
das Verbrechen hatte er trotzdem begangen. Idiot. Und idiotischer Junge, weil der ihm eingeredet hatte, es wäre eine gute
Idee.
»Da vorne gibt’s ein kleines Klo, da sind ein paar coole Sachen an den Wänden. Cartoons und so’n Zeug. Aber im Badezimmer
oben, da können Sie ihr Schminkzeug sehen und die Handtücher und alles. Ist unheimlich. Ich mein, für sie wahrscheinlich nicht.
Aber unheimlich, wenn man sich nie so ganz sicher war, ob es sie überhaupt gibt.«
Duncan verstand den Reiz, Julie Beattys Schminksachen zu sehen, vollkommen, und diese Tatsache verstärkte seinen Selbstekel.
»Tja, ich hab keine Zeit, hier lange rumzusuchen«, sagte Duncan und hoffte, dass Elliott nicht auf die offenkundige Fadenscheinigkeit
dieser Behauptung hinweisen würde. »Zeig mir einfach das Klo im Erdgeschoss.«
Sie standen in einer geräumigen Diele, von der mehrere Türen abgingen. Elliott wies mit dem Kopf auf eine von ihnen, und Duncan
marschierte forsch auf sie zu, ein Engländer mit wichtigen Geschäftsterminen an der Westküste, der sich in seinem vollgepackten
Kalender etwas Zeit freischaufeln konnte, um auf einem Bürgersteig herumzustehen und dann einfach mal so in ein fremdes Haus
einzubrechen.
Er pinkelte so geräuschvoll wie möglich, nur um Elliott zu beweisen, dass er wirklich dringend musste. Die versprochene Kunst
an den Wänden fand er allerdings enttäuschend. Es hingen da ein paar Karikaturen, eine von Julie und eine von einem Mann mittleren
Alters, der immer noch an die alten Fotos erinnerte, die Duncan von ihrem Ehemann
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