Juliet, Naked
würden.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Duncan.
Sie lachte.
»Doch«, sagte sie. »Ich kann mir echt was Besseres vorstellen.«
»Wo wir extra den weiten Weg gemacht haben? Wieso bist du plötzlich so komisch? Interessiert dich das nicht? Stell dir vor,
sie fährt plötzlich aus ihrer Garage, während wir dort stehen.«
»Dann würd ich mir noch blöder vorkommen«,sagte sie. »Sie würde mich ansehen und denken: ›Bei ihm überrascht mich das nicht. Er ist einer von diesen Spinnertypen. Aber
was treibt eine Frau hier?‹«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Wirklich nicht, Duncan. Wir sind für vierundzwanzig Stunden in San Francisco, und ich weiß nicht, ob ich je wieder herkommen
werde. Sich vor das Haus von irgendeiner Frau zu stellen … Wenn du nur einen Tag in London hättest, würdest du den dann vor
dem Haus von jemandem in, was weiß ich, Gospel Oak verbringen?«
»Aber wenn man extra hergekommen ist, um das Haus von irgendwem in Gospel Oak zu sehen … Und es ist nicht das Haus von irgendeiner
Frau, das weißt du selbst. Da sind Dinge passiert. Ich werde dort stehen, wo er gestanden hat.«
Nein, es war nicht irgendein Haus. Wer wusste das nicht (abgesehen von einem Großteil der Weltbevölkerung)? Julie Beatty hatte
dort mit ihrem ersten Ehemann gelebt, der Dozent an der Universität von Berkeley war, als sie Tucker auf einer Party von Francis
Ford Coppola kennenlernte. Sie verließ ihren Mann noch in derselben Nacht. Wenig später allerdings überlegte sie es sich anders
und kehrte nach Hause zurück, um sich mit ihrem Mann auszusöhnen. Das munkelte man jedenfalls. Annie hatte nie verstanden,
wie sich Duncan und seine Fankollegen bei so winzigen privaten Aufregern, die Jahrzehnte zurücklagen, so sicher sein konnten,
aber das waren sie. ›You And Your Perfect Life‹, der siebenminütige Song am Schluss des Albums, sollte von dem Abend handeln,
an dem Tucker vor diesem Haus gestanden hatte, »throwing stones at the window / ’til he came to the door / So where were you,
Mrs Steven Balfour?« Überflüssig zu sagen, dass der Ehemann gar nicht Steven Balfour hieß, und die Wahl diesesfiktiven Namens zwangsläufig endlose Spekulationen auf den Messageboards nach sich zog. Duncan vertrat die Theorie, dass er
nach dem englischen Premierminister benannt worden war, dem Lloyd George vorgeworfen hatte, er würde das Oberhaus in »Mr Balfours
Pudel« verwandeln – Juliet wäre demnach dann der Pudel ihres Ehemanns geworden. Diese Interpretation wurde von der Tucker-Community
heute als verbindlich betrachtet, und wenn man ›You And Your Perfect Life‹ bei Wikipedia aufrief, fand man Duncans Namen in
den Fußnoten, einschließlich eines Links zu seinem Artikel. Niemand auf der Website hatte es je gewagt, sich laut zu fragen,
ob der Nachname nicht vielleicht nur deswegen ausgewählt worden war, weil er sich auf »door« reimte.
Annie liebte ›You And Your Perfect Life‹. Ihr gefiel der ungebändigte Zorn des Songs und die Art und Weise, in der Tucker
vom Autobiografischen zur Sozialkritik überging, indem er das Stück in eine Tirade darüber umkippen ließ, wie kluge Frauen
von ihren Männern unterdrückt wurden. Eigentlich mochte sie keine heulenden Gitarren, aber ihr gefiel, dass das jaulende Gitarrensolo
in »Perfect Life« genauso klar verständlich und zornig wirkten wie der Text. Und ihr gefiel die Ironie des Ganzen – nämlich
dass Tucker, der Mann, der Steven Balfour hier maßregelte, sie weit mehr degradiert hatte, als es ihr Ehemann je vermocht
hatte. Sie würde nun für alle Zeiten die Frau sein, die Tuckers Herz gebrochen hatte. Ihr tat Julie leid, die, seit der Song
veröffentlicht worden war, immer wieder Männer wie Duncan am Hals hatte, die Steinchen an ihre Fenster warfen, im übertragenen
wie vermutlich auch im buchstäblichen Sinne. Aber sie beneidete sie auch. Wer würde einen Mann nicht gerne zu solcher Leidenschaft,
solcher Verzweiflung und Kreativität inspirieren? Wenn man schonselbst keine Songs schreiben konnte, war Julies Beitrag dann nicht immerhin das Nächstbeste?
Sie wollte das Haus trotzdem nicht sehen. Nach dem Frühstück nahm sie ein Taxi zum anderen Ende der Golden Gate Bridge und
lief dann Richtung Stadt zurück; der salzige Wind steigerte noch ihre Freude daran, allein zu sein.
Duncan kam sich ein bisschen komisch vor, ohne Annie zu Julies Haus zu fahren. In der Regel organisierte
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