Juliet, Naked
vergleichsweise Tändeleien. Tucker Crowe war Duncans Lebensgefährte. Auf Crowes Beerdigung – im wirklichen Leben, nicht in
kreativer Hinsicht – würde Duncan direkt hinterm Sarg gehen. (Den Nachruf hatte er bereits geschrieben. Ab und zu dachte er
laut darüber nach, ob er ihn jetzt schon einer seriösen Zeitung anbieten oder doch warten sollte, bis er aktuell würde.)
Wenn Tucker Duncans Ehemann war, hätte Annie eigentlich so was wie seine Geliebte sein müssen, doch dem war natürlich nicht
so – das Wort allein war schon viel zu exotisch und suggerierte ein Maß sexueller Aktivität, das sie beide in Angst und Schrecken
versetzte. Es hätte sie selbst am Anfang ihrer Beziehung verschreckt. Manchmal fühlte sich Annie weniger wie eine Freundin
als wie ein alter Schulfreund, der in den Ferien zu Besuch gekommen und dann zwanzig Jahre geblieben war. Sie waren beide
etwa um die gleiche Zeit in das englische Hafenstädtchen gezogen, Annie als Lehrerin und Duncan, um seine Doktorarbeit zu
beenden, und waren von gemeinsamen Freunden miteinander bekannt gemacht worden, die voraussahen, dass sie beide sich immerhin
über Bücher und Musik unterhalten, ins Kino gehen und ab und zu zusammen nach London fahren könnten, um sich Ausstellungen
oder Konzerte anzusehen.
Gooleness war keine fortschrittliche Stadt. Es gab keine Programmkinos, keine Schwulenszene, nicht mal einen Waterstones (der
nächste war in Hull), undso stürzten sie sich mit Erleichterung aufeinander. Sie gingen abends gemeinsam in die Kneipe und übernachteten am Wochenende
beim jeweils anderen, bis diese Übernachtungen nicht mehr so recht vom Zusammenleben zu unterscheiden waren. Und so waren
sie dann verblieben, eingefroren in einer immerwährenden Postgraduiertenwelt, in der Konzerte und Filme ihnen mehr bedeuteten
als anderen Menschen ihres Alters.
Keine Kinder zu bekommen, war kein bewusster Entschluss gewesen, und sie hatten auch nie darüber diskutiert und dann beschlossen,
die Entscheidung noch zu vertagen. Es war kein Lass-uns-mal-darüber-schlafen-Thema. Annie konnte sich durchaus vorstellen,
Mutter zu werden, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, Duncan als idealen Vater zu bezeichnen, und abgesehen davon hatte
keiner von ihnen das Verlangen, ihre Beziehung auf diese Weise zu zementieren. Dafür waren sie nicht geschaffen. Und nun durchlebte
Annie mit irritierender Vorhersehbarkeit genau das, was ihr alle prophezeit hatten: Sie sehnte sich nach einem Kind. Ihre
Sehnsucht wurde durch die üblichen sentimentalen Anlässe ausgelöst: Weihnachten, die Schwangerschaft einer Freundin, die Schwangerschaft
einer völlig Fremden, der sie auf der Straße begegnete. Sie wollte das Kind aus den üblichen Gründen: Sie wollte bedingungslose
Liebe spüren anstatt der schwach ausgeprägten Zuneigung, die sie hin und wieder für Duncan aufbrachte; sie wollte von jemandem
umarmt werden, der diese Umarmung nicht hinterfragte, den das Warum und Wer und Wie lange nicht interessierte. Es gab noch
einen weiteren Grund: Sie musste wissen, ob sie ein Kind haben könnte, ob da Leben in ihr steckte. Duncan hatte sie eingeschläfert,
und im Schlaf war sie entsexualisiert worden.
Sie würde über all das hinwegkommen, vermutlich; zumindest würde es eines Tages nur noch ein wehmütiges Bedauern sein statt
eines bohrenden Verlangens. Aber dieser Urlaub war nicht dazu angelegt, sie zu trösten. Sie hatten sich darüber gestritten,
dass man genauso gut Windeln wechseln könnte wie auf Männerklos herumhängen und Fotos machen. Die ungeheure Menge Zeit, die
sie für sich hatten, fühlte sich langsam … dekadent an.
Beim Frühstück in ihrem billigen und schmutzigen Hotel in der Innenstadt von San Francisco las Annie den Chronicle und entschied, dass sie sich nicht die Hecke ansehen wollte, die den Vorgartenrasen von Julie Beattys Haus in Berkeley den
Blicken entzog. Es gab jede Menge anderer Sehenswürdigkeiten in der Bay Area. Sie wollte sich Haight-Ashbury anschauen, ein
Buch bei City Lights kaufen, sie wollte Alcatraz besichtigen, sie wollte über die Golden Gate Bridge laufen. Im Museum of
Modern Art nur ein Stück die Straße runter gab es eine Ausstellung über die West-Coast-Kunst der Nachkriegsära. Sie war froh,
dass Tucker sie nach Kalifornien gelockt hatte, aber sie wollte den Morgen nicht damit verbringen abzuwarten, ob Julies Nachbarn
sie beide als Sicherheitsrisiko betrachten
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