Juliet, Naked
mit einem Zettel hinzusetzen und Rechenschaft
über die letzten Jahrzehnte abzulegen. Er würde links alle Jahre untereinanderschreiben und dann zu jedem ein, zwei Worte
notieren, die zumindest erahnen ließen, was ihn in den jeweiligen 12 Monaten beschäftigt hatte. Das Wort »Alk« und ein paar
Wiederholungszeichen würden für die späten Achtziger genügen; ab und zu mal hatte er eine Gitarre oder einen Kugelschreiber
zur Hand genommen, doch meistens hatte er bloß Fernsehen geglotzt und sich so lange Scotch hinter die Binde gekippt, bis die
Lichter ausgingen. Es gab andere, gesünder klingende Wörter und Namen, die er für die späteren Jahre verwenden konnte – »Malen«,
»Cooper und Jesse«, »Cat«, »Jackson«, aber eigentlich erklärten auch die nicht so viele Monate, wie er es gerne gehabt hätte.
Wie viel Zeit hatte er wirklich in dieser winzigen Wohnung verbracht, die er in seinen Maler-Jahren angemietet und als Atelier
benutzt hatte? Sechs Monate? Und seine Söhne, als sie zur Welt gekommen waren … Gut, er war mit ihnen spazieren gegangen,
aber die meiste Zeit waren sie gestillt worden oder hatten geschlafen, und er hatte bei beidem zugesehen. Andererseits warZusehen ja auch eine Tätigkeit, oder etwa nicht? Man kann nicht viel anderes machen, wenn man mit Zusehen beschäftigt ist.
Manchmal dachte er daran, was sein Vater wohl hingeschrieben hätte, wenn er vor einer Liste seiner Erwachsenenjahre gesessen
hätte. Er hatte ein langes, produktives Leben gehabt: drei Kinder, eine gute, solide Ehe, seine eigene chemische Reinigung.
Was würde er also bei, sagen wir mal, ja 1961–68 nennen? »Arbeit«? Dieses eine kurze Wort würde sieben Jahre seines Lebens
perfekt beschreiben. Und Tucker wusste hundertprozentig, was er bei 1980 eingetragen hätte: »Europa«, oder vermutlich »EUROPA«!
Er hatte lange darauf gewartet, noch einmal nach Europa zu kommen, und jede Sekunde der Reise geliebt; der Urlaub seines Lebens
war einen Monat lang gewesen. Vier Wochen von zweiundfünfzig! Tucker wollte gar nicht erst die Unterschiede nivellieren –
er wusste, dass sein Dad der bessere Mann gewesen war. Aber jeder, der versuchte, sich auf diese Weise Rechenschaft über die
vergangenen Jahre abzulegen, musste sich fragen, wo sie alle geblieben waren, was er ausgelassen haben könnte.
Jackson hatte für den ganzen Rest des Nachmittags und den frühen Abend nah am Wasser gebaut. Er weinte, als er gegen Lizzie
beim Tic-tac-toe verlor, er weinte, weil ihm die Haare gewaschen wurden, weil Tucker sterben würde und weil er seine Eiscreme
nicht in Schokoladensauce ertränken durfte. Tucker und Cat waren davon ausgegangen, dass er länger aufbleiben und mit ihnen
zu Abend essen würde, aber er war so kaputt nach diesem emotionalen Overkill, dass er früh ins Bett ging. Sekunden, nachdem
der Junge eingeschlafen war, erkannte Tucker, dass er ihn als kleines, aber effektivesmenschliches Schutzschild eingesetzt hatte: Niemand konnte ihn sauber ins Visier nehmen, solange Jackson in der Nähe war.
Als er wieder zu Cat und Lizzie nach unten in den Garten ging, kam er gerade rechtzeitig, um zu hören, wie Cat mit sarkastischer
Stimme sagte: »Tja, das ist so seine Art.«
»Was ist so wessen Art?«, fragte er fröhlich.
»Lizzie erzählte mir gerade, dass ihre Mom in die Nervenklinik musste, nachdem du ihr den Laufpass gegeben hattest.«
»Ah ja.«
»Hast du mir nie erzählt.«
»Tja, irgendwie kam das Thema nie auf, als wir anfangs miteinander ausgingen.«
»Komisch, oder?«
»Eigentlich nicht«, meinte Lizzie.
Und von da an zogen sie nur noch vom Leder. Cat stellte fest, dass sie in der Gesellschaft ihrer neuen Stieftochter bereits
entspannt genug war, um Lizzie freimütig Auskunft über den Zustand ihrer Ehe zu geben; Lizzie dankte es ihr mit freimütiger
Auskunft über den Schaden, den Tucker durch seine Abwesenheit angerichtet hatte. (Tucker registrierte, dass sie sich während
ihres ganzen Sermons schützend die Hände vor den Bauch hielt, als könnte er jeden Moment ihr ungeborenes Kind mit einem Messer
attackieren.) Tucker nickte an manchen Stellen weise und schüttelte gelegentlich mitfühlend den Kopf. Dann und wann, wenn
beide Frauen ihn einfach nur wütend anstarrten, zuckte er die Achseln und ließ den Kopf hängen. Es kam ihm witzlos vor, sich
zu verteidigen, und außerdem war er gar nicht sicher, wie er seine Verteidigung aufbauen sollte. In der
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