Juliregen
Nathalia zu suchen. Die meisten Fahrgäste der ersten Klasse hatten sich in ihre Abteile zurückgezogen und die Lichter gelöscht. Auch waren fast alle Türen verschlossen, so dass sie nicht einmal heimlich hineinsehen konnten.
»Es ist zum Verzweifeln!«, stöhnte Lore, als sie den letzten Waggon der ersten Klasse ohne Ergebnis durchquert hatten.
»Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als bis zum Morgen zu warten. Daher sollten wir das Abteil aufsuchen, das uns der Kondukteur zur Verfügung gestellt hat, damit Sie ein wenig Schlaf finden«, schlug Jürgen vor.
Lore schüttelte den Kopf. »Ich bin viel zu angespannt, um schlafen zu können. Wir müssen Nati so bald wie möglich finden. Ich kann sie nicht in Malwines Klauen lassen! Kommen Sie, wir gehen noch einmal durch alle Waggons erster Klasse. Vielleicht fällt uns doch etwas auf.«
Auch wenn Jürgen sich nichts davon versprach, folgte er Lore durch die Gänge und hoffte, dass die Fahrgäste, an deren Türen die Gräfin rüttelte, nicht aufwachten und glaubten, sie wären Diebesgesindel. Einen Einwand wagte er jedoch nicht, denn er verging innerlich beinahe vor Sorge um Nathalia.
»Wir werden wohl bald einen Bahnhof erreichen«, sagte er, als der Zug langsamer wurde.
Lore nickte und zeigte nach vorne. »Wenn wir zusammenbleiben, können wir immer nur einen Waggon überwachen. Gehen Sie zum nächsten weiter und halten dort die Augen offen. Wenn Sie etwas entdecken, rufen Sie mich.«
Jürgen nickte und ging hinüber in den nächsten Waggon. Dort hätte er am liebsten gegen alle Türen geschlagen und die Passagiere herausgeholt. Da der Schaffner ihn jedoch spätestens beim dritten Abteil als Störenfried festnehmen würde, musste er darauf verzichten. Für sich aber schwor er, Ottwald von Trettin für die Entführung Nathalias büßen zu lassen, und wenn er ihn dafür zum Duell fordern musste.
XIII.
N ur wenige Schritte von Jürgen entfernt musterte Ottwald von Trettin Nathalia besorgt. Diese lag noch immer mit geschlossenen Augen auf ihrem Sitz und rührte sich nicht. Ihre langsamen, aber steten Atemzüge zeugten jedoch davon, dass noch Leben in ihr war.
Malwine konnte ebenso wenig schlafen wie ihr Sohn. »Ich hoffe, sie stirbt uns nicht unter den Händen!«, sagte sie besorgt.
Ottwald legte die Finger auf Nathalias Hals, um die Schlagader zu prüfen. Diese pochte kräftig und recht schnell. »Nein, das glaube ich nicht«, antwortete er. »Wie es aussieht, kämpft ihr Körper gegen das Zeug an. Wir sollten daher noch ein wenig warten, bevor wir ihr die zweite Dosis geben. Allerdings müssen wir es vor Heiligenbeil tun, denn wir können uns keinen Aufruhr in unserer Kreisstadt leisten.«
»Vielleicht sollten wir ihr vorher die Bilder zeigen, die in dem kleinen Handkoffer dort stecken. Das würde sie demütig werden lassen«, schlug Malwine vor.
Ihr Sohn hatte von den Klampts einiges über Nathalia gehört, besonders auch über die Impulsivität des Mädchens. Daher schüttelte er den Kopf. »Nein, Mama! Das muss in aller Ruhe und in der Abgeschiedenheit unserer vier Wände geschehen. Hier im Zug könnte der Anblick der Bilder mit ihrem nackten Körper die Komtess zu Reaktionen verleiten, die wir unbedingt vermeiden müssen. Da fällt mir ein – ich muss noch unserem Inspektor in Trettin telegrafieren, dass er uns vom Bahnhof abholen lassen soll. Wenn ich einen fremden Wagen miete, gibt das nur Gerede.«
Seine Mutter horchte auf. »Der Zug wird langsamer. Wahrscheinlich werden wir bald einen Bahnhof erreichen.«
»Dann werde ich den Bahnhofsvorsteher auffordern, das Telegramm zu schicken!« Ottwald wollte sich erheben, doch seine Mutter hielt ihn auf.
»Das übernehme besser ich. Wenn die Komtess aufwacht, weiß ich nicht, ob ich allein mit ihr fertig würde.«
»Dann gehen Sie, Mama! Ich passe unterdessen auf diesen Goldschatz auf. Er ist wirklich zu wertvoll, um ihn aus den Augen zu lassen.« Ottwald begleitete seine Worte mit einem leisen, zufriedenen Lachen.
Weder er noch seine Mutter bemerkten, dass sich Nathalias Augenlider für einen Moment öffneten und gleich wieder schlossen. Sie war schon geraume Zeit wach, hatte aber rasch begriffen, dass sie betäubt und entführt worden war. Daher tat sie weiter so, als schlafe sie. Auch hatte sie Malwine erkannt, und daher schwante ihr nichts Gutes, zumal ihr die leise geführte Unterhaltung zwischen Mutter und Sohn nicht entgangen war.
Ottwald von Trettin wollte sie also mit irgendwelchen
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