Juliregen
Erna, die Nathalias unverblümten Worten zufolge ihr Gnadenbrot auf Klingenfeld erhielt, und wedelte schon von weitem mit einem Brief. »Den hat eben ein Bote aus Nehlen gebracht!«
»Aus Nehlen? Geben Sie her!« Lore nahm der alten Magd den Umschlag ab und schlitzte ihn ungeduldig mit dem Brotmesser auf.
Dorothea schüttelte den Kopf, denn es hätte sich gehört, die Bedienstete einen Brieföffner holen zu lassen, Nathalia aber kicherte nur und beugte sich zu Lore hinüber, um mitlesen zu können. »Graf Nehlen bittet uns, morgen seine Gäste zu sein. Wie es aussieht, will er etwas verkünden«, entnahm sie den in steiler Schrift geschriebenen Sätzen.
»Wahrscheinlich will er uns seinen Nachfolger vorstellen!« Lore seufzte, denn ein mit Gottlobine von Philippstein verheirateter Gademer versprach nicht gerade ein angenehmer Nachbar zu werden.
Nathalia zischte leise. »Ich finde es empörend, dass immer die Erfolg haben, die nach oben buckeln und nach unten treten, während andere, die es weitaus eher verdient hätten, leer ausgehen.«
»Du meinst Herrn Göde?«, fragte Lore.
Nathalia antwortete mit einem heftigen Nicken. »Herr Göde hat nicht nur uns aus der Gewalt dieses Lumpen Ottwald gerettet, sondern sich auch als unersetzliche Hilfe bei der Einrichtung von Klingenfeld erwiesen. Ich hoffe, du bietest ihm Asyl, wenn Gademer und die Gottseibeiunsine ihn aus Nehlen vertreiben.«
»Nati, man verballhornt nicht die Namen anderer Leute!«, mahnte Dorothea, doch sie hätte genauso der Teekanne predigen können.
Nathalia war viel zu erregt, um diese Mahnung auch nur wahrzunehmen, und kämpfte sogar gegen die Tränen. Dann straffte sie sich, und auf ihr Gesicht trat ein entschlossener Zug. »Auch wenn Graf Nehlen eine Kriecherkreatur wie Edgar von Gademer vorzieht, so gibt es doch andere, die Herrn Göde durchaus zu schätzen wissen.«
Lore wechselte einen kurzen Blick mit Dorothea und fasste dann nach Nathalias Hand. »Soll ich das so verstehen, dass Herr Göde einen tieferen Eindruck auf dich gemacht hat?«
Ihre Freundin nickte erneut. »Ja! Und ich empfinde es als ungerecht, wie sein Großonkel ihn behandelt.«
»Ich würde dir ja wünschen, mit Herrn Göde glücklich zu werden«, warf Dorothea ein. »Doch gibt es da ein wohl unüberwindliches Problem. Er wird es niemals wagen, um deine Hand anzuhalten!«
»Das befürchte ich auch.« Lore überlegte, ob sie das Gespräch mit Jürgen suchen und diesem Mut machen sollte. Doch dann überflog sie Graf Nehlens Brief noch einmal und beschloss, das Thema auf einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem sich die Aufregung über diese Einladung wieder gelegt hatte.
Auch Dorothea las nun den Brief und sah ihre beiden Freundinnen an. »Wir werden Herrn Göde mitteilen müssen, dass sein Oheim ihn ebenfalls morgen zu sehen wünscht. Zum Glück hat der junge Mann sich nie Hoffnungen auf das Erbe gemacht.«
»Dazu ist er ein viel zu edler Charakter!«, rief Nathalia aus und klammerte sich an Lore, wie sie es bereits als Kind getan hatte, wenn sie unglücklich gewesen war.
II.
G erade als Lore am nächsten Tag den Befehl gab, die Wagen anzuspannen, kehrte Fridolin von seiner Reise zurück, auf der er wieder einmal mit potenziellen Kunden der neuen Fabrik verhandelt hatte. Er sah die Damen in voller Garderobe und sah fragend in die Runde. »Wollt ihr ausfahren?«
Lore nickte lächelnd. »Gut erkannt, mein Lieber. Graf Nehlen hat uns eingeladen, der Verkündung seines Erben beizuwohnen. Wenn du dich mit dem Umziehen beeilst, warten wir auf dich.«
»Ich bin gleich wieder da! Kommen Sie, Kowalczyk, wir werden den Damen zeigen, wie schnell wir fertig sein können.« Gefolgt von seinem Kammerdiener eilte er nach oben und kehrte tatsächlich in kürzester Zeit zurück.
Obwohl Lore ihn kritisch musterte, fand sie nichts an ihm auszusetzen. »Du siehst einfach vollendet aus, mein Lieber«, meinte sie lachend und hakte sich bei ihm ein.
»Eigentlich ist es an uns Männern, Komplimente zu verteilen, mein Schatz. Darum lass dir sagen, dass du der Verkörperung der Venus und der Minerva in einem gleichst!«
Obwohl Fridolin lächelte, blickten seine Augen so ernst, dass Lore beunruhigt aufsah. »Sind deine Verhandlungen nicht so vonstattengegangen wie erhofft, mein Lieber, oder ist sonst etwas geschehen?«
Fridolin rettete sich in ein gezwungen klingendes Lachen. »Aber nein! Wie kommst du darauf? Mit der Fabrik steht alles zum Besten. Sie ist bald fertig, und dann können wir
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