Juliregen
Nehlen wurde, so hatte sich der Aufenthalt auf dem Gut doch für sie gelohnt.
»Graf Nehlen ist ein kluger Mann«, raunte Nathalia Lore ins Ohr und wandte sich dann an Jürgen. »Wie fühlen Sie sich als Erbe Ihres Großonkels?«
Der alte Herr hörte es und lachte. »Das würde mich auch interessieren.«
Jürgen sah zuerst ihn und dann Nathalia mit einer Miene an, als hätte er statt eines reichen Erbes einen schweren Verlust zu tragen. »Ich weiß nicht … Ich fühle mich wie erschlagen und habe Angst, Ihre Erwartungen nicht erfüllen zu können.«
»Bescheiden wie immer«, kommentierte Nathalia nicht sonderlich zufrieden.
Ihre Miene glättete sich jedoch sofort wieder, und um ihren Mund spielte ein Lächeln. »Dabei sind Sie höchster Ehren wert, mein Herr, einschließlich deren, mein Ehemann zu werden.«
Nach diesen Worten wurde es so still im Saal, dass man ein Mäuschen hätte über den Boden huschen hören. Dorothea wirkte schockiert, der alte Graf war offensichtlich amüsiert, und Lore schüttelte nur schweigend den Kopf. Sie hatte Nathalia so oft von Emanzipation reden hören, dass die Worte ihrer Freundin nicht unerwartet kamen. Angesichts dessen erschien es ihr sogar stimmig, dass ihre Freundin Jürgen einen Heiratsantrag gemacht hatte, anstatt zu warten, bis dieser den Mut dazu fand. Jetzt war sie auf die Reaktion des jungen Mannes gespannt.
Jürgen starrte Nathalia so entgeistert an, als zweifelte er entweder an seinem oder an ihrem Verstand. »Gnädiges Fräulein, Sie sehen mich vollkommen überrascht. Nie hätte ich zu hoffen gewagt, Ihnen würde etwas an mir liegen.«
Nathalia beugte sich so weit zu ihm hin, dass Lore schon befürchtete, sie wolle Jürgen unter Verletzung aller Konventionen küssen. Doch so weit ging Nathalia nicht. Stattdessen flüsterte sie dem jungen Mann ins Ohr. »Weshalb glauben Sie, habe ich diesen Hirsch für Sie geschossen? Gewiss nicht, weil Sie mir gleichgültig sind!«
Jürgen zog den Kopf ein. »Wir werden es meinem Großonkel beichten müssen.«
»Aber nicht hier und jetzt! Heute feiern wir. Immerhin sind Sie der Erbe, und wenn Sie wollen, auch mein Verlobter.« Bei den letzten Worten klang Nathalias Stimme etwas scharf, denn sie erwartete doch ein wenig Einsatz von ihrem Gegenüber.
Jürgen stand auf, verbeugte sich vor ihr und sah sie dann mit strahlenden Augen an. »Gnädiges Fräulein würden mich überglücklich machen, wenn Sie die Meine werden wollten.«
Damit war auch Dorothea wieder versöhnt und eilte herbei, um dem jungen Paar zu gratulieren. Lore tat es ihr gleich und stupste Nathalia dabei auf die Nase. »Nun, bist du glücklich, Fratz?«
»Natürlich«, antwortete ihre Freundin mit einem zufriedenen Lächeln. »Herr Göde, oder wie ich ihn von nun an nennen werde, Jürgen, ist genau der Mann, den ich mir immer vorgestellt habe. Er ist zartfühlend und wird sich meinem Willen nur entgegenstellen, wenn ich Unsinn machen wollte, und das tue ich gewiss nicht!«
»Range!«, flüsterte Lore noch, dann wurde sie von weiteren Gratulanten abgedrängt.
Selbst Leutnant von Bukow rang sich einen Glückwunsch ab, überlegte aber schon, welche Tochter eines Vorgesetzten für ihn als Braut in Frage käme. Da er nun nicht mehr der mittellose Leutnant war, konnte er selbst bei einem General vorsprechen und mit Aussicht auf Erfolg um dessen Tochter oder Enkelin werben.
Nehlen wischte sich über die feucht gewordenen Augen. »Auch wenn du selbst im Herzen bescheiden bist, so bist du doch fähig, das höchste Ziel zu erreichen. Vielleicht begreifst du jetzt, weshalb ich dich als meinen Erben erwählt habe.«
Jürgens Gesichtsausdruck zufolge schien dies nicht der Fall zu sein. Er wirkte sogar ein wenig unglücklich, als er zu sprechen begann. »Wenn Sie es wünschen, werde ich meinen Beruf aufgeben und nach Nehlen kommen, um von Ihnen zu lernen, Landwirt zu werden.«
»Papperlapapp!«, wehrte Nehlen ab. »Du tust das, was du am besten kannst, und das ist nun einmal, in alten Dingen zu wühlen. Reise in den Orient, grabe ein zweites Troja aus und mache dir auf diese Weise einen Namen. Auf Nehlen habe ich einen prächtigen Gutsinspektor, der einmal den Posten des Verwalters einnehmen kann. Und was mich selbst betrifft, so habe ich vor, deine Mutter und deine Schwestern auf das Gut zu holen. Ich hoffe, sie sind keine solchen Nervensägen wie Rodegard und Gottlobine von Philippstein. Deiner Mutter werde ich vorschlagen, vorteilhafte Ehen für die Mädchen zu
Weitere Kostenlose Bücher