Juliregen
Erbonkel angenehm zu machen, aber gleichzeitig erklärt, er habe gegen seine eleganten und sportlichen Cousins wohl ohnehin keine Chancen.
Mit einer heftigen Handbewegung verscheuchte Jürgen diesen Gedanken und schloss zu der Komtess auf. Am liebsten wäre er auf der anderen Seite des Pferdes verschwunden, doch Nathalia führte es so nahe am Straßenrand, dass er notgedrungen neben ihr gehen musste. Dabei musterte er sie verstohlen.
Sie war einen Kopf kleiner als er und hatte eine zierliche, beinahe elfenhafte Figur, wirkte aber trotzdem sehr weiblich. In ihrem samtgrünen Reitkleid, dessen Schleppe sie kurzerhand über ihre freie Hand gehängt hatte, glich sie der Prinzessin aus einem Märchen. Die keck unter dem Hut hervorlugenden Locken waren dunkelblond, die Augen grünlich schimmernd wie bei einer Nixe.
Seine beiden Schwestern waren etwa eine Handbreit größer als die Komtess, etwas fülliger und galten als ausgesprochen hübsche Mädchen. Dennoch verblassten sie gegen die junge Dame neben ihm, deren Gesicht ihn ein wenig an eine Katze erinnerte. Um den Mund lag ein entschlossener Zug, der darauf hindeutete, dass sie gewohnt war, nur nach einem Willen zu handeln, und zwar ihrem eigenen.
Jürgen fragte sich, für was für ein jämmerliches Geschöpf Komtess Nathalia ihn halten musste, weil er zu dumm gewesen war, am richtigen Bahnhof auszusteigen. Doch hätte er diesen Fehler nicht gemacht, wäre er ihr vielleicht nie begegnet, und die Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Es tut mir leid, dass Sie sich meinetwegen solche Umstände machen müssen«, entschuldigte er sich, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
Nathalia sah mit belustigter Miene zu ihm auf. »Ich muss mir überhaupt nichts machen! Was ich tue, mache ich, weil ich es will. Und ich will nicht, dass Sie sich mit Ihrem Ziegelsteinkoffer über Land schleppen und unterwegs zusammenbrechen. Sie sind doch einer der Neffen von Graf Nehlen, nicht wahr?«
»Einer seiner Großneffen.«
»Einer der drei Auserwählten, aus denen er seinen Nachfolger auf dem Gut auswählen will!«
Nathalias Tonfall meinte er zu entnehmen, dass sie ihn nicht als Favoriten einschätzte. Und damit hatte sie wohl leider recht. Jürgen hatte seine beiden Vettern auf Familienfeiern kennengelernt und wusste, dass er weder das geschliffene Auftreten eines Adolar von Bukow besaß noch das fachliche Wissen seines zweiten Cousins Edgar von Gademer, der in der Erwartung, der Erbe zu sein, Agrarwirtschaft studiert hatte und nun einen Gutshof im Besitz des Großherzogs von Oldenburg verwaltete. Angesichts dessen schien seine Reise nach Nehlen sinnlos. Doch vielleicht konnte er den Grafen dazu bewegen, wenigstens seinen beiden Schwestern ein paar tausend Mark als Mitgift zu spenden, damit diese heiraten konnten.
»Ich kenne Graf Nehlen gut«, setzte Nathalia das Gespräch fort. »Erst gestern war ich mit meiner Freundin und deren Mann auf Nehlen zu Gast. Es wird Ihnen dort gefallen.«
»Gewiss«, sagte Jürgen mit dem festen Glauben, dass seine selbstbewussten Vettern ihn jeden Augenblick spüren lassen würden, was sie von ihm hielten. In deren Augen war er ein Bücherwurm, der hinter einen Schreibtisch gehörte, aber kein Mann, der einen großen Gutshof führen konnte. Und dann fehlte seinem Namen auch noch das wichtige »von«. Zwar würde Grimbert von Nehlens Nachfolger sich einmal Graf nennen können, dennoch waren seine Vettern ihm auch in dieser Beziehung um mehr als eine Nasenlänge voraus.
Jürgen schob den Gedanken an seine Verwandten beiseite und sagte sich, dass es ein schöner Tag war, er mit einem ausgesprochen hübschen Mädchen spazieren ging und sich dabei wirklich nicht wie ein Tropf benehmen wollte.
»Entschuldigen Sie, Sie sagten, Ihr Gut wäre hier in der Nähe. Aber Sie sehen nicht aus, als würden Sie auf dem Land leben.«
Nathalia schüttelte lachend den Kopf. »Das tue ich auch nicht! Im Allgemeinen lebe ich in Bremen oder Berlin und komme nur in den Ferien aufs Land. Wo wohnen Sie?«
»Mit meiner Mutter und zwei Schwestern zusammen in einer kleinen Altbauwohnung in Hamburg. Ich habe orientalische Sprachen studiert und mich mit antiken Kulturen beschäftigt. Ein Freund unserer Familie hatte nämlich behauptet, er würde nach Mesopotamien reisen, um dort Abrahams Spuren zu entdecken, und dabei müsse ich ihn unbedingt begleiten und unterstützen. Erst als ich mein Studium abgeschlossen hatte, wurde meiner Mutter und mir bewusst, dass der besagte
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