Julischatten
Die Deutsche konnte gut kochen. Sie benutzte die Gewürze für ihre fremdartigen Gerichte, die sich von dem, was Lukas sonst zu essen bekam, wenn er mit Jimi zu Big Bat’s, Subway oder zu Taco Bell ging, ziemlich unterschieden. Ganz zu schweigen vom ewigen Dosenfutter, das ihn zu Hause bei Bernadine erwartete.
Jo hatte einen kleinen Garten hinter dem Haus, in dem sie Gemüse, verschiedene Salatpflanzen, Tomaten und Kräuter anbaute. Den Samen ließ sie sich aus Deutschland schicken und den besten Salat im ganzen Res gab es bei ihr. Genauso wie den besten Kaffee und die köstlichste Schokolade.
Aber Jimi hatte einen Anruf bekommen und musste einer Frau aus Porcupine ein Beutelchen Stachelschweinborsten vorbeibringen, die sie dringend für eine Halskette brauchte – ein Geschenk für eine Namensgebungszeremonie. Das war ein triftiger Grund und Lukas musste ihn akzeptieren.
Zweimal im Monat fuhr Jimi mit Bernadines Sohn Tyrell den weiten Weg bis nach Denver, um dort bei einem Großhändler billig Perlen, Leder, verschiedenfarbige Stoffe, künstliche Sehne und andere Grundmaterialien für kunsthandwerkliche Arbeiten einzukaufen, die Bernadine dann mit einer kleinen Gewinnspanne an die Leute im Reservat weiterverkaufte. Damit machte sie Jo Klinger und ihrem Laden zwar Konkurrenz, aber Jo hatte deswegen nie ein böses Wort verloren. »Leben und leben lassen« war ihre Devise, ganz im Gegensatz zu vielen Einheimischen im Res, die sich gegenseitig nicht das Fleisch in der Suppe gönnten. Die alten Tugenden der Lakota, zu denen neben Selbstbeherrschung, Standhaftigkeit und Tapferkeit auch Großzügigkeit gehörte, waren im Kampf ums tägliche Überleben verschütt gegangen.
Die besagten Stachelschweinborsten hatte Jimi allerdings nicht vom Großhändler aus Denver, sondern von einem unglücklichen Stachelschwein, das er letzte Woche auf dem Weg nach Pine Ridge über den Haufen gefahren hatte.
Lukas’ Magen knurrte. Seit dem Frühstück hatte er nichts Ordentliches mehr zwischen die Zähne bekommen. Bestimmt hatte Jo etwas Besonderes gekocht für ihre Nichte. Wie gerne würde er jetzt mit Jo und Sim im Blockhaus am Tisch sitzen und ihren Gesprächen lauschen. Wenn Jo Sommergäste hatte, dann erfuhr er jedes Mal etwas Neues aus der Welt, die hinter den Reservatsgrenzen lag. Fremde Länder faszinierten ihn, vielleicht deshalb, weil sie unerreichbar für ihn waren.
Manchmal wechselten Jos Landsleute in seinem Beisein Worte in ihrer Muttersprache. Er mochte den poltrigen, gewittrigen Klang der deutschen Worte. Jimi dagegen behauptete, wenn Deutsche sich unterhielten, würde es immer nach Streit klingen.
Vor allem aber interessierte ihn Sim, die anscheinend nicht freiwillig hier war. Als Jimi seinen Mustang vom Schotterweg auf die Asphaltstraße lenkte, hielt Lukas es nicht länger aus. »Nun erzähl schon, wie sieht sie aus?«
»Keine Ahnung«, antwortete Jimi nach einigem Zögern, »jedenfalls nicht wie ein Mädchen.«
Nicht wie ein Mädchen? »Wie dann?«
»Na ja, eher wie ein komischer Vogel. Sie trägt keine… wie soll ich sagen… üblichen Klamotten.«
»Kannst du ein bisschen ins Detail gehen?« Lukas platzte beinahe vor Neugier. »Wie wär’s, wenn du sie mir einfach beschreibst, ohne deine geschätzte Wertung, bitte.«
Jimi seufzte dramatisch und legte los: »Sie ist ein richtiges Bleichgesicht mit heller Haut, an die vermutlich nie ein Sonnenstrahl gelangt. Gelbgrüne Stachelbeeraugen, so dick mit schwarzer Schminke umrandet, dass sie aussieht wie ein Waschbär. Rot gefärbte Stachelhaare, Storchenbeine und Titten winzig wie Mäusenasen. Ach ja und sie hat da diese hässliche Narbe in der Oberlippe.«
Lukas amüsierte sich über den Zoo in Jimis Beschreibung. Jimi Little Wolf war in den vergangenen Jahren ein Meister der Beobachtungskunst geworden und Lukas wusste das zu schätzen. Durch Jimis Fantasie wurde seine dunkle Welt bunter und größer. Während er ihm die schräge Kleidung von Jos Nichte schilderte und von ihren blauen Fingernägeln erzählte, entstand ein Bild in Lukas’ Kopf, ein Bild von einem bunten, geheimnisvollen Mädchen mit winzigen Brüsten und einer furchtbaren Narbe im Gesicht.
Die meisten Leute glaubten, Lukas könne nicht viel anfangen mit Farben. Aber das war ein Irrtum. Er war nicht von Geburt an blind gewesen – sieben Jahre lang hatte er sehen können. Bis zu dem Unfall, bei dem seine Mutter starb und sein Leben in undurchdringliches Schwarz getaucht wurde. Doch die
Weitere Kostenlose Bücher