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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Farben waren in seinem Kopf. Er kämpfte beharrlich darum, sie nicht an die Dunkelheit zu verlieren. Indem er sie mit Eigenschaften, Gerüchen und Gefühlen verband, versuchte er, sie festzuhalten.
    Die Farbe Grün war der Duft frisch geschnittenen Grases, Gelb so gemütlich wie ein Nickerchen am Nachmittag. Weiß war so weich wie der Flaum einer Adlerfeder und Braun der bittersüße Kakaogeschmack von Schokolade. Die Farbe Blau war die Weite des Himmels, Rot bedeutete glühende Hitze und Blut und Hass. Schwarz war so sanft wie die Nüstern eines Pferdes, war die Fülle von schwerem Indianerhaar.
    Durch ihre verrückten Klamotten würde sich Sim von den Mädchen im Reservat unterscheiden, die meistens in Einheitskleidung unterwegs waren: Jeans und T-Shirt im Winter. Shorts und T-Shirt im Sommer. Mädchen in Röcken gab es hier so gut wie gar nicht, außer auf dem Powwow natürlich, aber das war etwas anderes.
    Simona. Er mochte den Klang ihres Namens, was sie anscheinend nicht tat. Sie hatte abgeklärt wirken wollen, aber ihre Stimme war unsicher und rau. Sie hatte kaum etwas gesagt, und wenn, dann hatte sie langsam gesprochen, als müsse sie die Worte erst suchen. Dabei sprach sie ziemlich gut Englisch. Ihre Stimme klang ehrlich und verriet ihm mehr als die Worte, die sie sich abgerungen hatte.
    Da ihm die Mimik der Menschen verwehrt blieb, war die Stimme sein erster Eindruck, wenn er auf einen Unbekannten traf – und meistens blieb es auch dabei. Mit den wenigsten Menschen wurde Lukas so vertraut, dass sie ihn ihre Hände oder gar ihr Gesicht berühren ließen, damit er sich eine echte Vorstellung von ihnen machen konnte. Viele Menschen hielten das gar nicht aus, selbst wenn sie Lukas besser kannten. Also musste er sich auf ihre Stimmen verlassen, um sich ein Bild von ihnen zu machen.
    Die Leute ahnten nicht, wie sehr sie sich beim Sprechen offenbarten. Lukas lauschte auf die Nuancen im Klang der Stimme. So konnte er herausfinden, ob jemand log, ob er ängstlich war oder wütend. Er konnte erkennen, ob sein Gegenüber klug war oder eher träge im Geist. Ob er spontan war oder zurückhaltend, spröde oder offen. Er konnte Zweifel aus der Stimme herauslesen, Sehnsüchte und manchmal sogar Wünsche.
    Sim hatte cool wirken wollten, doch dahinter verbarg sich Unsicherheit. Unter ihrem mürrischen Desinteresse brodelte Neugier. Und sie war von Jimi beeindruckt gewesen, obwohl sie mit aller Macht versucht hatte, das zu verbergen. Ihr Atem hatte sie verraten. Wenn sie mit Jimi gesprochen hatte, war Befangenheit in ihrer Stimme gewesen.
    Nicht, dass ihn das überrascht hätte. Jimi gefiel jedem Mädchen, sie warfen sich ihm reihenweise an den Hals. Er sah gut aus (das sagte jede) und seinem verwegenen Charme konnte kaum eine widerstehen. Sein großes Vorbild war Crazy Horse, der zum Mythos gewordene Häuptling, der mit seinen Kriegern und Verbündeten die Siebte Kavallerie unter General Custer am Little Bighorn vernichtend geschlagen hatte.
    Was Lukas allerdings überraschte: Sim hatte auch Eindruck auf Jimi gemacht.
    Jimi Little Wolf grub jede an, ob sie nun hübsch war oder hässlich, klein oder groß, dick oder dünn. Er testete seine Wirkung, das konnte er einfach nicht lassen. Nur weiße Mädchen passten nicht in sein Beuteschema, sie interessierten ihn nicht, da hatte er seine Prinzipien. Dass es bei Jos Nichte anders war, musste etwas bedeuten.
    Sollte er Jimi fragen, ob er richtig lag? Mit Sicherheit würde er alles abstreiten und ihn auslachen.
    Jimi drosselte das Tempo, sie hatten Manderson erreicht. Nach dem Ortsschild durfte man bloß noch fünfundzwanzig Meilen pro Stunde fahren, der Kinder wegen. Jimi bog von der Straße und der Mustang rumpelte durch ein tiefes Schlagloch. Wie immer machte Jimi halt vor Pinkys Laden, um sich noch eine Cola, Tabak oder Kondome zu kaufen.
    »Brauchst du was?«, fragte er.
    »Ein paar neue Augen.«
    »Okay. Ich frag mal, ob heute welche mitgekommen sind.«
    »Ein Sandwich wäre super«, sagte Lukas, »und ein Wasser.«
    »Ja, klar. Was sonst, du Langweiler.«
    Jo zeigte Sim, wo sie schlafen würde. Es war ein geräumiges Zimmer mit zwei unverkleideten Holzwänden, die runden Balken waren auf der Innenseite lackiert worden. An der rückwärtigen Wand stand ein Doppelbett mit einem großen Starquilt, einer aus gelben, orangefarbenen und roten Rauten zusammengenähten Steppdecke. Auf dem Quilt lag eine hübsche, bunt gewebte Umhängetasche.
    »Die ist für dich«, sagte Jo. »Ein

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