Julischatten
mehr erinnern, als sie im Krankenhaus zu sich kam – mit einer Nadel im Arm, die durch einen Schlauch mit einem Beutel Kochsalzlösung verbunden war.
Es war ihr sechzehnter Geburtstag.
Ihre Eltern gerieten in helle Panik und kannten kein Pardon: Eine stationäre Entgiftung oder während der Sommerferien sechs Wochen zu Tante Johanna in die USA, das waren Sims Optionen.
Die Wahl fiel ihr nicht schwer, auch wenn die Reise nicht das war, wonach es sich im ersten Moment anhörte. Die Schwester ihres Vaters wohnte nämlich nicht in New York oder San Francisco und auch an keinem coolen Ort in der Wildnis, wo nachts die Wölfe im Wald heulten.
Nein, Sim saß in einer winzigen Propellermaschine mit siebenunddreißig Sitzen und war auf dem Weg nach Rapid City, South Dakota, irgend so ein Nest im Wilden Westen, das unter der weißen Wolkendecke lag. Tante Jo würde sie abholen und mit ihr nach Pine Ridge fahren, das Indianerreservat, in dem ihre Tante seit neun Jahren lebte, mitten im Nirgendwo.
Johanna – Jo – war das schwarze Schaf der Familie, bevor Sim ihr diesen Rang abgelaufen hatte. Auf Wunsch ihrer Eltern sollte Jo Violinistin werden (laut Opa Werner hatte sie das Zeug dazu), hatte sich jedoch auf einer ihrer Reisen quer durch die USA in einen Lakota-Indianer namens James Kills A Hundred verliebt und beschlossen, ihn zu heiraten. Sims Großeltern waren verzweifelt. Ihr Vater versuchte, seine Schwester dazu zu bewegen, sich das mit dem Heiraten noch einmal zu überlegen. Aber Tante Johanna packte ihre Siebensachen und verschwand für immer zu ihrem Liebsten nach Pine Ridge, South Dakota.
Sim hatte ihre Tante damals glühend dafür bewundert. Sie war acht Jahre alt und ihre Fantasie lief auf Hochtouren. Tante Johanna, die im Tipi hauste, am offenen Feuer kochte, wilde Pferde ritt, einen Typen mit Zöpfen zum Mann hatte und jetzt Jo Kills A Hundred hieß. Toll. Sie war schon immer Sims Lieblingstante gewesen, aber nun wurde sie ihr großes Vorbild. Wenn es sich schon nicht vermeiden ließ, erwachsen zu werden, dann wollte sie wenigstens so sein wie ihre abenteuerlustige Tante.
Damals fing Sim an, englische Wörter zu lernen, damit sie gewappnet war, in die Fußstapfen ihrer Tante zu treten. Als Zwölfjährige besaß sie einen reichhaltigen englischen Wortschatz, dessen Existenz sie jedoch gut zu verbergen wusste. Schließlich sollte niemand aus ihrer Familie etwas von ihren Auswanderplänen wissen.
Ein paar Jahre später hörte Sim ihre Eltern munkeln, dass Onkel James trank und Tante Johanna geschlagen hätte. Ihr Vater flog nach South Dakota, um seine Schwester in den sicheren Schoß der Familie zurückzuholen. Aber davon wollte Jo nichts wissen. Das ist mein Leben, hatte sie zu ihm gesagt, und mir gefällt es.
Ihr Vater kehrte todunglücklich ohne seine Schwester nach Hause zurück. Und Sim bewunderte Tante Jo nur noch mehr.
Inzwischen war Jo geschieden und hieß wieder Klinger. Sie unterhielt einen kleinen Laden, der sich »Horse Hill Arts & Crafts Shop« nannte. Darin verkaufte sie Kunstgewerbliches von Leuten aus dem Reservat an Touristen und Rohmaterial wie Perlen, Leder, Schnüre an die Indianer. Das Geschäft lief einigermaßen, zumindest konnte sie inzwischen davon existieren. Das war auch schon alles, was Sim über das Leben ihrer Tante wusste.
Als Kind hatte Sim sämtliche Indianerbücher gelesen, die sie in die Finger bekam, und hatte jeden Indianerfilm gesehen. Sie war ein Wildfang. Sogar in der Schule trug sie Stirnbänder und selbst genähte Hemden mit indianischen Mustern. Sie baute Buden im Wald, kletterte auf Bäume und alles, was die anderen Mädchen in ihrem Alter interessierte (Vampire, Prinzessinnen, Nagellack und BHs), fand sie langweilig. Stattdessen nähte sie einen kleinen Lederbeutel mit Fransen, packte besondere Steine, Mäuseknöchlein und ihre Milchzähne (und die der Katze) hinein und trug den Medizinbeutel verborgen unter ihren Kleidern auf der Brust. In ihren Träumen streifte sie durch die Prärie und der Held auf dem rabenschwarzen Pferd (natürlich ohne Sattel) wartete ungeduldig hinter dem nächsten Busch auf sie, um sie in sein Tipi zu entführen.
Damit war es schlagartig aus, als nach ihrem zwölften Geburtstag etwas über sie hereinbrach, das sich Pubertät nannte und jegliche Kommunikation mit Erwachsenen unmöglich machte. Sim fand, dass ein einziges Wort mit acht Buchstaben nicht umfassen konnte, was mit ihr passierte. Das Chaos von tausend Fragen in ihrem Kopf,
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