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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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die nach einer Antwort suchten. Das Auf und Ab ihrer Gefühle, das einer Achterbahnfahrt glich. Die Selbstzweifel vor dem Spiegel. Das plötzliche Klar-Sehen. Der Wunsch, unsichtbar zu sein, und gleichzeitig die große Hoffnung, von den Jungen beachtet zu werden und für einen von ihnen etwas Besonderes zu sein. Doch keiner machte sich bei Sim die Mühe, zweimal hinzusehen.
    Neben ihrer hübschen Schwester fühlte sie sich wie eine graue Maus. Sim war mittelgroß und die Farbe ihrer störrischen Haare lag irgendwo zwischen Braun und Blond. Sie war weder dick noch dünn (abgesehen von ihren Beinen, die definitiv zu dünn waren), weder geistreich noch begabt, weder witzig noch musikalisch. Das einzig Auffällige an ihr war dieser kleine Makel, der ihr seit ihrer Geburt anhaftete: Sim war mit einer Lippenspalte geboren, landläufig Hasenscharte genannt. Jedes fünfhundertste Kind kam mit solch einer Fehlbildung auf die Welt. Genau genommen war also nicht mal das etwas Besonderes.
    Ihre Mutter behauptete, sie hätte großes Glück gehabt, weil bei ihr nicht der Gaumen, sondern nur die Lippe von der Fehlbildung betroffen war, was mit einer einzigen Operation behoben werden konnte, als Sim ein paar Monate alt gewesen war.
    Glück nannte ihre Mutter das: mit einer fetten Narbe in der Oberlippe herumzulaufen, während sich um einen herum alles um Schönheit und Perfektion drehte. Sie hatte diese Narbe schließlich mitten im Gesicht, dort, wo alle zuerst hinschauten. Ohne Narbe hätte sie wenigstens ein hübsches Lächeln gehabt, aber so geriet es immer ein bisschen schief. Deshalb lächelte Sim selten. Sie fand, es passte einfach nicht zu ihr.
    Ihre schräge Kleidung aber war etwas, das ihr ganz allein gehörte, etwas, womit sie die Leute in ihrer Umgebung schockieren und von der Narbe ablenken konnte.
    Zuerst kam die Grufti-Ära. Sie färbte ihre Haare schwarz, schminkte sich mit viel Schwarz und trug ausschließlich schwarze Klamotten. Unter dem dicken schwarzen Lippenstift war ihre Narbe kaum noch zu erkennen. Sim sah aus wie ein unglücklicher Rabe. Merle amüsierte sich über ihre Verwandlung. Ihre Eltern hielten es für eine pubertäre Phase und hofften, dass es vorübergehen würde, genauso wie ihre Indianermacke.
    Ging es auch.
    Sim verwandelte sich in eine Punkerin: kahler Schädel mit einem roten Iro (für den sie jeden Morgen eine Stunde brauchte, damit er stand wie ein Brett), zerrissene Klamotten, jede Menge Ketten und Piercings, Stachelhalsband und sogar einen Stecker in der Zunge, den zu stechen verflucht wehgetan hatte. Aus welcher Mülltonne sie denn gekrochen sei, hatte ihr Lehrer sie eines Tages entgeistert gefragt.
    Sogar Merle war schockiert, zumindest das hatte Sim mit ihrem Outfit erreicht. Ihre Eltern verhielten sich immer noch tapfer, ließen sie jedoch wissen, dass sie sich lächerlich machte. Davon abhalten konnten sie Sim nicht. Insgeheim hofften sie, dass ihre Tochter zu Verstand kommen würde, ehe sie sich vollkommen entstellt hatte.
    Damals kam Sim sich vor wie in einem tiefen Schlammloch. Sie ruderte mit Händen und Füßen, um nicht im zähen Schlick zu versinken, der ihr Leben war. Am Ufer standen ihre Eltern, die Großeltern, ihre Lehrer, sogar Merle, ihre ach so perfekte Schwester. Sie riefen und streckten hilfreich die Arme nach ihr aus, wollten ihr heraushelfen auf festen Boden, hinein in die Welt der Erwachsenen.
    Aber dort wollte Sim gar nicht hin. Sie war noch nicht bereit, in die Haut eines Erwachsenen zu schlüpfen. Also trat und strampelte sie verzweifelt weiter. Bis sie Cook entdeckte, sich verliebte und hoffte, er würde derjenige sein, der ihr zurück an Land half. Doch ausgerechnet Cook war es, der sie in ihr Schlammloch zurückstieß.
    War die große Liebe Schicksal oder eine rein chemische Angelegenheit – das hatte sie sich seither immer wieder gefragt. Wurden wir zu Opfern von Hormonen und biochemischen Vorgängen, die wir nicht im Griff hatten, wenn wir uns verliebten? Wissenschaftler hatten Parallelen zwischen den chemischen Vorgängen im Gehirn von Verliebten und denen von zwangsneurotischen Patienten entdeckt. Liebe war also so etwas wie eine Krankheit, eine Krankheit, gegen die man sich nicht impfen lassen konnte. Dieser Gedanke half Sim.
    Auf dem Flughafen in Denver, wo Sim zwischengelandet und nach der Einreiseprozedur in diese kleine Propellermaschine umgestiegen war, hatte man sie angestarrt, als käme sie aus einer Freakshow. Es war wie in Weisburg: Die Leute

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