Julischatten
abzuholen? Wenn sie zurückfliegen und am Ende doch noch in diese blöde Entzugsklinik musste?
Sim kam sich abgeschoben vor, verlassen, ausgesetzt. Aber heulen würde sie bestimmt nicht. Aus ihrer Unruhe wurde Wut. Innerlich verfluchte sie ihre Eltern und diese blödsinnige Idee mit dem Indianerreservat, als sich die große Drehtür erneut bewegte und zwei junge Männer mit dunklen Men-in-Black-Brillen die Eingangshalle betraten. Sie steckten in schmuddeligen T-Shirts und weiten, tief sitzenden Jeans. Sim schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn und trotz der grässlichen Klamotten verdienten sie einen näheren Blick.
Der mit der verdrehten Baseballkappe auf dem Kopf war schlank und ein Stück größer als sein Begleiter, der durchtrainiert aussah und dessen rechter Arm dunkel war von Tätowierungen. Der Große hatte seine Hand auf der Schulter des anderen und sie lachten über etwas, das sie sich gerade erzählt hatten. Als der Tätowierte einer vollbusigen Scarlett Johansson hinterherblickte, sah Sim den langen Pferdeschwanz, der bis zur Hälfte seines Rückens reichte.
Mitten in der Eingangshalle blieben die beiden Indianer stehen. Pferdeschwanz nahm seine Sonnenbrille ab und hängte sie in den Halsausschnitt seines T-Shirts. Der andere war so cool, dass er seine Brille auch im Gebäude aufbehielt.
Sim merkte, wie sie taxiert wurde. Sie konzentrierte sich auf das Gepäckband, doch nach ein paar Sekunden siegte die Neugier und ihr Blick wanderte wieder zurück zu den beiden Indianern, die immer noch an derselben Stelle standen. Jetzt sah sie, dass Pferdeschwanz ein Stück Pappe in der Hand hielt und es langsam vor seine Brust hob. Darauf stand in Großbuchstaben: SIMONA.
Das Herz sank ihr in die Knie und ein ungläubiger Seufzer kam aus ihrer Kehle. Das. Darf. Doch. Nicht. Wahr. Sein.
Jimi Little Wolf war auf einiges gefasst gewesen, nur nicht darauf, dass Jos Nichte wie ein roter Igel aussah. Wie ein überfahrener Igel. Aber viel Auswahl gab es sonst nicht in der Empfangshalle des Flughafens.
Einen Moment lang starrte er das Mädchen an, sich durchaus darüber im Klaren, das ihm und Lukas dieselbe intensive Begutachtung zuteilwurde. Sein Blick wanderte vom Kopf des Mädchens zu ihren Füßen und wieder zurück. So ein Wesen hatte er noch nie gesehen. Flammend rotes Haar, das in kleinen Spitzen vom Kopf abstand, die auf der linken Seite platt gedrückt waren. Lange, rot bestrumpfte Beine – wie ein Storch. Sie steckten in schwarzen Lederstiefeln mit weißen Punkten. Der superkurze Rock war zusammengenäht aus bunten Stoffresten, die in ausgefransten Zipfeln endeten. Unter dem völlig zerlöcherten grünen T-Shirt lugte knallroter Stoff hervor.
Das Gewicht des Rucksacks schien das Mädchen nach hinten zu ziehen. Es hob die Hand zum Gruß und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
»Ich sehe was, was du nicht siehst«, sagte Jimi zu Lukas, »und das ist…«
»Hübsch?«, fragte Lukas erwartungsvoll.
»Darüber reden wir später, okay?«, brummelte Jimi.
Zusammen bewegten sie sich auf das kunterbunte Mädchen zu.
»Hi«, sagte Jimi, als sie bei ihm angelangt waren. »Bist du Simona?« Sie war genauso groß wie er und sah ihm direkt in die Augen.
»Wo ist meine Tante?«, fragte sie argwöhnisch. »Ist etwas passiert?«
Ihre Stimme war unerwartet dunkel und kräftig. Die schwarz umrandeten Augen hatten dieselbe Farbe wie reife Stachelbeeren: helles Gelbgrün. Trotz einer Schicht Make-up im Gesicht war die hässliche Narbe in ihrer Oberlippe nicht zu übersehen. Als ob die Lippe in zwei Hälften geteilt und wieder zusammengenäht worden war. Jimi gab sich redlich Mühe, nicht auf diese Narbe zu starren, stattdessen musterte er Simonas rechte Ohrmuschel, die vom Ohrläppchen aufwärts mit zahlreichen kleinen Silberringen durchbohrt war.
»Keine Sorge«, antwortete er schließlich. »Deine Tante hatte einen Wasserrohrbruch, und gerade als sie zum Flughafen wollte, kamen die Männer mit ihren Geräten, um den Schaden zu beheben. Sie hat Lukas und mich beauftragt, dich abzuholen.« Er räusperte sich. »Ich bin Jimi.«
Der Blick des Mädchens wanderte misstrauisch von ihm zu Lukas.
»Hi«, sagte der mit einem breiten Grinsen. (Lukas’ Timing war ein Phänomen.)
»Lass dich von seinem debilen Gesichtsausdruck nicht irritieren«, sagte Jimi zu ihr. »Er ist vollkommen harmlos und will nur spielen.«
Jos Nichte war offensichtlich nicht zu Späßen aufgelegt. »Woher weiß ich, dass ihr die Wahrheit
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