Julischatten
jedenfalls.«
Vor zwei Tagen hatte Lukas Fetzen eines Handygesprächs zwischen Jimi und Wer-weiß-wem aufgeschnappt – unbeabsichtigt – und seitdem ahnte er, dass Glasperlen und Leder nur ein Vorwand für die monatlichen Fahrten nach Denver waren.
Lukas hatte immer gewusst, dass Jimi Marihuana rauchte. Das taten eine Menge Leute im Reservat. Dass er allerdings damit dealte, war eine ganz andere Sache. Dafür konnte er ins Gefängnis gehen.
Von dem Handygespräch hatte Lukas nur Bruchteile mitbekommen und sich den Rest zusammengereimt: Tyrell Jumping Eagle holte das Marihuana ins Reservat und Jimi verdiente sein Geld damit, dass er das Gras unter die Leute brachte. Nicht selten hatte Lukas ihn auf seinen Liefergängen begleitet, weil er nicht ahnen konnte, mit was Jimi da handelte. Er war im wahrsten Sinne des Wortes blind gewesen.
Das Erkennen der Wahrheit war wie ein Tritt in die Magengrube gewesen und sein Vertrauen in Jimi ins Wanken geraten. Zahllose Fragen gingen seitdem durch seinen Kopf. Waren nur Tyrell und Jimi an dem Geschäft beteiligt oder noch andere Pflegekinder? Verpackten sie im großen Haus Perlen und Lederbänder in Zeitungsbriefchen oder Marihuana? Lukas hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte, jetzt, wo er mit seinem Wissen nicht nur Jimi in Schwierigkeiten bringen konnte.
Als Jimi später ins Zimmer gekommen war, hatte er sich schlafend gestellt und es bisher nicht fertiggebracht, seinen Freund auf die Sache anzusprechen. Vorher musste er sich über einiges klar werden. Darüber, was für Konsequenzen Jimis Tun für ihn selbst, für andere und für ihre Freundschaft hatte.
Lukas seufzte leise. Er versuchte, den Gedanken an Jimi als Drogendealer für eine Weile beiseitezuschieben und sich auf Sim zu konzentrieren, die vor ihm saß. Er hatte seinen linken Arm um sie gelegt, obwohl das nicht zwingend notwendig war.
Plötzlich scheute Ghost. Lukas hörte den schrillen Warnschrei einer Eule und ein aufgeregtes Zischen und Klappern. Er zog straff an den Zügeln. Der Schecke wieherte erschrocken und tänzelte auf der Stelle, bevor er stehen blieb. Etwas flatterte davon.
»Das war eine kleine Eule«, sagte Sim, die sich an Lukas’ Arm geklammert hatte und auch jetzt noch nicht losließ. »Sie kam aus einem Erdloch. Es muss eine Klapperschlange drin sein, ich habe sie gehört.«
»Keine Klapperschlange«, versuchte er, Sim zu beruhigen, obwohl sein eigenes Herz so hart schlug, dass es in seinen Ohren dröhnte. »Das Zischen und Klappern kam von der Eule. Sie leben in den Erdhöhlen der Präriehunde und können eine Klapperschlange nachmachen.«
Er brachte Ghost dazu weiterzulaufen, weg von diesem Ort. Sie hatten eine Prärieeule aufgescheucht und Eulen waren Todesboten. Lukas’ Magen verkrampfte sich angesichts dieses bösen Omens und er versuchte, nur noch an Sim zu denken. Sie saß vor ihm, er konnte sie spüren. Sie hatte seinen Vorschlag auszureiten, ohne zu zögern, angenommen. Hatte das etwas zu bedeuten oder machte er sich bloß etwas vor, so wie bei Jimi?
»Almona hat mir erzählt, dass Eulen auch das Greinen von Katzenkindern nachmachen können, um die Mütter von ihren Jungen wegzulocken«, sagte Sim.
»Ja, das ist wahr.«
»Stehlen Eulen Hundebabys?«
»Ich glaube nicht, jedenfalls habe ich so etwas noch nie gehört.« Warum konnte sie nicht aufhören, über Eulen zu reden?
»Juniper hat ihre Welpen unter der Treppe bekommen, obwohl sie ein schickes Hundehaus hat.«
Erleichtert über den Themenwechsel atmete er auf. »Sie ist eben ein eigensinniges Mädchen. Wie viele sind es denn?«
»Fünf. Sie sehen aus wie Ratten.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Du wirst schon sehen«, sagte sie.
Daraufhin schwieg er.
Eine halbe Stunde später stieg Ghost eine Anhöhe hinauf und Lukas wusste, dass sie bald am Ziel waren. Er hatte beschlossen, Sim seinen Lieblingsplatz zu zeigen, das kleine Felsplateau am Rande der bewaldeten Schlucht. Abgesehen von Nima hatte er bisher kein Mädchen mit hierher genommen, aber er fand, Sim passte hierher.
Oben angelangt blieb Ghost stehen und sie stiegen ab. Der Schecke bekam ein paar Pellets aus Lukas’ Hosentasche, dann begann das Pferd zu grasen. Lukas näherte sich der Felskante, indem er seine Schritte auf der glatten Steinfläche zählte. Schon konnte er sie hören, die Tiefe. Die Schlucht war ein Labyrinth aus Geräuschen. Das Rauschen der Kiefernwipfel im Abendwind. Die Schreie der Adler, die den Auftrieb nutzten und über den
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