Julischatten
hatte bei Roxie die Rolle der großen Schwester übernommen. Sie hatte bereits sexuelle Erfahrungen. Lukas würde nie vergessen, was sie einmal zu Roxie gesagt hatte: »Am Anfang sind alle Jungen nett. Aber wenn sie dann kriegen, was sie wollen, behandeln sie dich wie Dreck.« Er hatte protestieren wollen, es jedoch nicht getan. Was wusste er schon von Teena und ihren Erfahrungen mit Männern?
Dass Sim noch nie verliebt gewesen war, entsprach sicher nicht der Wahrheit. Aber warum dann diese Reaktion?
»Hey, bist du noch da?«, fragte er.
»Klar.«
»Augen noch zu?
Sie lachte. »Ja«.
»Hast du eigentlich Geschwister?«
»Eine Schwester.«
»Älter oder jünger?«
»Sie ist drei Jahre älter als ich.«
»Wie heißt sie?«
»Merle.«
»Seht ihr euch ähnlich?«
»Überhaupt nicht«, antwortete sie abweisend.
Er hörte die Stacheln in ihrer Stimme. Sim war sehr direkt gewesen, als es um seine Person ging. Aber nun, da er etwas über sie wissen wollte, musste er ihr jedes Wort aus der Nase ziehen.
»Und deine Eltern?«
»Ganz nett.«
»Ganz nett?«
»Auch nette Eltern können einem das Leben zur Hölle machen.«
Lukas gefiel die Richtung nicht, die ihr Gespräch auf einmal genommen hatte. Sim verschloss sich. Wie gerne würde er sie noch einmal zum Lachen bringen, aber ihm fiel nichts ein, was er sagen könnte.
Plötzlich begann der Boden unter ihm zu vibrieren. Lukas hob den Kopf und lauschte. Im selben Moment stockte ihm der Atem und sein Herzschlag setzte einen Moment aus.
»Sim…«
»Tut mir leid, dass ich…«
»Sim«, sagte er mit Nachdruck.
»Ja?«
»Dreh dich mal um.«
»Scheiße.« Sie schnappte nach Luft und er hörte sie aufspringen.
»Bleib ganz ruhig stehen, okay!« Auch Lukas erhob sich. »Wie weit ist er von uns weg?«
»Ungefähr… sieben Meter. Na ja, vielleicht sind es auch bloß fünf.«
Lukas schluckte trocken und überlegte, wie viel Fuß fünf Meter waren. Nicht viel, das war klar. Er konnte das Schnauben des Büffels hören. Drohend scharrte er mit einem Huf im Gras.
»Mann oder Frau?«, fragte er.
»Was?«
»Hörner, ja oder nein?«
»Hörner«, flüsterte sie.
»Keine Angst«, sagte er und schob sich vor sie. Er hörte ihren raschen Atem und das wilde Pochen ihres Herzens. Auch sein eigenes Herz schlug wie der Schlägel einer Trommel, während er fieberhaft überlegte, was er tun konnte. Vor ihnen der Büffelbulle, hinter ihnen der Abgrund. Sim verrückt vor Angst und er blind.
Wieder vibrierte der Boden unter seinen Füßen.
»Nur noch vier Meter«, flüsterte Sim.
Und Lukas tat das Einzige, was in seiner Macht stand. Er holte tief Luft und begann zu singen:
Tatanka wa ma’niye
Ate heyelo Ate heyelo
Mako’ce wan waste ci cupi ca
Yanpi ktelo
Ate heyelo Ate heyelo
Tatanka wa ma’niye
Ate heyelo Ate heyelo
Canunpa wan ci cupi ca
Yanipi ktelo
Ate heyelo Ate heyelo
Sim hielt den Atem an. Der Büffel (er hatte die Größe eines Kleinwagens) stand nur wenige Meter vor ihnen. Langsam drehte er den wuchtigen Schädel zur Seite, um sie mit seinem dunkelbraunen Auge zu mustern. Sim starrte auf die kurzen gebogenen Hörner und den zotteligen Bart, der fast bis auf den Boden reichte. Der dunkelbraune Koloss schien nur aus Muskeln zu bestehen. Einen Meter hinter ihr der Abgrund, vor ihr ein zotteliges Urtier mit Hörnern. Dazwischen Lukas, der blinde Held, mit nichts als seinem Lied.
Das war’s dann also.
Doch der Büffel schien wie gebannt Lukas’ Stimme zu lauschen. Auch wenn Sim kein Wort Lakota verstand, begriff sie, dass er das Lied bereits von Neuem begonnen hatte. Der Wind trug seine Worte über die offene Prärie, die Schwingungen in seiner Stimme schienen das Tier zu erreichen, denn der Büffelbulle rührte sich nicht.
Sim kitzelte der Schweiß im Nacken, aber sie wagte nicht, sich zu bewegen. Zum dritten Mal begann Lukas sein Lied. Noch volltönender und eindringlicher kamen die Worte aus seiner Kehle, wie eine Bitte, eine Hoffnung, die mehr umfasste als den Wunsch an den Büffel, dass er seiner Wege ziehen möge.
Schließlich schnaubte der braune Riese ein letztes Mal drohend und schüttelte seinen mächtigen Schädel. Langsam wandte er seinen schwerfälligen Körper von ihnen ab und stapfte gelassen davon.
Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus. Lukas sang weiter, bis das Stapfen der Hufe auf dem trockenen Boden verklungen war. Sein letztes Ate heyelo Ate heyelo schwebte über die Prärie davon wie ein Wolkenschleier. Er legte den Kopf schief
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