Julischatten
und lauschte.
»Ist er weg?«
»Jap.«
»Das war knapp.«
»Kann man so sagen.«
»Wahrscheinlich ist er irgendwo abgehauen. Wir erzählen es deiner Tante, sie muss es melden.«
»Ghost ist weggelaufen.«
»Der kommt schon wieder.« Lukas lächelte. »Hey, du bist ja ganz weiß um die Nase.«
»Was?« Verwirrt starrte sie ihn an.
»War ein Scherz.«
Sim ließ ihren Blick noch einmal über die grasbewachsenen Hügel streifen. Der Büffelbulle wanderte gemächlich durch eine Senke und entfernte sich weiter von ihnen.
»Das war mutig«, sagte sie erleichtert. »Du trägst deinen Namen zu Recht.«
Lukas schien einen Augenblick zu überlegen, was sie damit meinte.
»In meinem Namen bedeutet das Wort brave nicht mutig«, sagte er.
»Nicht? Was dann?«
»Krieger.«
»Lukas, der Krieger?«
Er zuckte mit den Achseln. »Früher mussten wir uns unsere Namen verdienen. Heute werden sie einfach weitergegeben, so wie das bei euch Weißen üblich ist.«
»Ich finde, dass du deinen Namen verdient hast.«
»Ein Krieger, der nicht kämpfen kann.« Lukas schüttelte den Kopf.
»Du hast gekämpft. Mit einem Lied.«
Er wandte sich ab und Sim spürte, dass sie ihn in Verlegenheit gebracht hatte. Lukas schob die Finger in den Mund und pfiff. Kurz darauf kam Ghost über den Hügel gelaufen.
»Danke, Luke«, sagte sie.
»Danke wofür?«
»Für diesen Ort hier, für den Büffel, für dein Lied.«
Lukas wandte ihr sein Gesicht zu. Für einen Moment fiel das Licht in einem ungewöhnlichen Winkel in seine Augen und die schwarzen Pupillen wurden zu zwei silbernen Scheiben, als ob der Mond sich darin spiegelte.
15. Kapitel
Am nächsten Tag musste Lukas ins Krankenhaus nach Pine Ridge, wo er zu seiner halbjährlichen Routineuntersuchung erwartet wurde. Auch wenn Bernadine sich sonst kaum um seine Belange kümmerte: Darauf, dass er zu diesen Kontrollen ging, achtete sie streng. Den Stempel, den er nach abgeschlossener Untersuchung bekam, brauchte sie für seine Behindertenrente und zur Vorlage beim Jugendamt. Für ihn als behindertes Pflegekind erhielt sie einen höheren Satz Pflegegeld, eigentlich gedacht für besondere Hilfsmittel, die ihm das Leben erleichtern sollten.
Abgesehen von der Schreibmaschine in Brailleschrift, die er zu seinem zehnten Geburtstag auf Druck seiner Lehrerin hin bekommen hatte, wurde das Geld jedoch regelmäßig für andere Dinge verwendet. Eine neue Schultasche für Roxie zum Beispiel, als ihre geklaut worden war. Oder für einen neuen Kühlschrank im Trailer, als der alte den Geist aufgegeben hatte.
Lukas machte das nichts aus, so hatte er wenigstens das Gefühl, etwas zum Familienunterhalt beizutragen – auch wenn er diese Besuche im Krankenhaus hasste. Der sterile Geruch nach Desinfektionsmitteln rief jedes Mal die Erinnerung an den Unfall in ihm wach, der seiner Mutter das Leben gekostet und ihm den Blick auf die Welt für immer genommen hatte.
Wie jedes Mal war er auch heute froh gewesen, die Prozedur hinter sich zu haben und wieder draußen im Freien zu stehen.
Chance hatte ihn heute Morgen nach Pine Ridge mitgenommen, aber um eine Rückfahrgelegenheit musste er sich selbst kümmern. Er war zur Tankstelle Big Bat’s gelaufen, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der ihn wieder nach Manderson zurückbringen würde. Big Bat’s war der Dreh- und Angelpunkt von Pine Ridge, trotzdem stand er nun schon seit einer geschlagenen Stunde hier und hatte immer noch keine Mitfahrgelegenheit auftreiben können.
Als Jo ihn ansprach, wusste er, dass das Warten ein Ende hatte.
»Wir nehmen dich mit«, sagte sie. »Du musst dich aber ein bisschen gedulden, ich habe noch etwas zu erledigen.«
»Kein Problem.« Lukas war mächtig erleichtert und sein Herz begann, schneller zu schlagen. Wir nehmen dich mit, hatte Jo gesagt. War Sim bei ihr?
»Setzt euch so lange ins Restaurant. Wenn ich fertig bin, hole ich euch ab.«
Sims Hand fasste nach seiner. Im Tankstellengebäude roch es nach Frittieröl und Ketchup. Sim führte ihn nach links und legte seine Hand auf eine klebrige Stuhllehne. »Ich hole mir einen Eistee«, sagte sie. »Möchtest du auch irgendetwas?«
Dich, war er versucht zu sagen. »Ein Wasser ohne Eis und irgendein Sandwich.« Lukas hatte zur Blutabnahme im Krankenhaus nüchtern erscheinen müssen und nun knurrte sein Magen wie ein verärgerter Bär. Er griff in die Gesäßtasche seiner Jeans und holte ein paar Dollarnoten hervor. »Hier«, sagte er. »Nimm dir, was du
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