Julius Lawhead 2 - Flammenmond
flüchtigen Kuss auf den Mund und stand auf. Zuerst stellte sie den Tisch wieder hin und den Stuhl, der durch den halben Raum gerutscht war, dann hielt sie inne.
Die Hand mit dem Lorbeer, an der sie gearbeitet hatte, lag in einer Pfütze Blumenwasser auf dem Boden. Scherben der zu Bruch gegangenen Vase waren überall, eine steckte sogar im Ton.
Aber so zerstört war das Modell gar nicht. Vielleicht war es sogar noch zu retten! Ambers Müdigkeit war mit einem Schlag wie weggeblasen. Bis zu ihrem Aufbruch waren es noch sechs Stunden. Zeit genug, um zumindest ein Modell fertigzubekommen.
Hastig verfrachtete sie die Rosen ins Waschbecken, sammelte die Scherben auf und machte sich daran, die zerdrückte Tonfigur wieder in Form zu biegen. Irgendein Gott schien doch ein wenig Mitleid mit ihr gehabt zu haben, denn dank des vergossenen Blumenwassers war der Ton nicht allzu sehr angetrocknet.
Ambers Hände arbeiteten wir von allein. Fügten hier etwas an, glätteten dort, formten Stängel und Blätter der Ranke neu. Doch auch nach Stunden war und blieb es nur ein einziges Tonmodell.
Würde das reichen, um ihren Chef und den Auftraggeber zu überzeugen? Vor allem, wenn sie es noch nicht einmal selber abgab? Einen Versuch war es wert.
Als Amber glaubte, die Augen gar nicht mehr aufhalten zu können, klingelte ihr Handy. Auf dem Display leuchtete eine bekannte Nummer.
Kurz überlegte sie, nicht zu antworten, doch ihr schlechtes Gewissen behielt die Oberhand.
»Mama, es tut mir leid«, sagte sie schnell, bevor Charly Connan überhaupt nur den ersten Ton herausbrachte.
»Weißt du, wie spät es ist, Amber?«
»Nein, weiß ich ehrlich gesagt nicht.«
»Du wolltest vor einer Stunde hier sein, wo bist du denn?«
»Bei Julius.«
»Du fährst zu deinem Freund? Heute? Ist er dir so viel wichtiger als Frederik, als ich?«
»Mama, bitte.« Amber atmete tief durch. »Ich schaffe es heute nicht mehr.«
»Du hältst dich nie an unsere Verabredungen!«
»Das stimmt doch gar nicht. Letztes Mal …«
»Wir wollten zum Friedhof. Ich habe extra Blumen gekauft. Du hast es mir versprochen. Du musst ja nicht mit mir essen, aber steig ins Auto und komm her … bitte.«
Amber hörte, wie Charly zu schluchzten begann. »Mama, bitte, ich muss wirklich arbeiten. Frederik würde das verstehen.«
»Morgen früh?«
»Nein, ich kann nicht.« Amber schluckte. Wie sollte sie ihr erklären, was mit Brandon geschehen war?
»Was kann am Sonntag so Wichtiges sein, dass du deinen Bruder nicht besuchen kannst?«, sagte ihre Mutter auch prompt.
Amber atmete tief durch.
»Du tust fast so, als sei er noch lebendig, Mama! Aber Frederik ist tot. Er wartet nicht auf uns. Er hat jetzt alle Zeit der Welt.«
Klack. Charly Connan hatte aufgelegt.
Amber schalt sich eine Idiotin. Sie wusste doch genau, wie schlecht ihre Mutter mit der Wahrheit zurechtkam, und ihr Tonfall war zudem alles andere als freundlich gewesen. Sie atmete tief durch und wählte die Nummer von daheim, dann lauschte sie gebannt auf das Freizeichen. Ein, zwei, fünf Mal, und keiner nahm ab.
Amber klappte ihr Handy zu und barg das Gesicht in den Händen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt passierte. Charly ging zur Anrichte in der Küche, wo sie in der linken Schublade ganz hinten unter den Servietten ihre Tabletten verborgen hatte. Es war eines von vielen Verstecken, die über das ganze Haus verteilt waren. Charly würde eine Pille schlucken, womöglich auch zwei, und versuchen, ihre Trauer in einem traumlosen Schlaf zu ertränken.
Und diesmal war weder ihr untreuer Vater noch Frederik daran schuld, sondern Amber. Ganz allein sie!
Es klopfte an der Tür.
Amber schrak hoch und wäre beinahe von Stuhl gekippt. Sie war am Tisch eingeschlafen. Ein Blick auf die Uhr jagte ihr den nächsten Schrecken ein.
Es war schon nach zwölf, viel zu spät.
Erneutes Klopfen.
»Wir wollen den Sarg abholen«, rief Robert. In seiner Stimme klang Eile mit, und Amber hatte sofort das mürrische, aber liebenswerte Gesicht von Curtis’ Diener vor Augen.
»Ja, ja, sofort.«
Als sie die Tür aufschloss, warteten Robert und zwei andere Männer davor. Ihnen stand der Schweiß auf der Stirn. Anscheinend hatten sie die anderen Särge bereits verladen und Julius’ als Letzten vorgesehen.
Missbilligend trat Robert an Amber vorbei und musterte den offen stehenden Sarg und die Metallbolzen, die es dem Vampir eigentlich ermöglichten, diesen von innen wie einen Tresor zu verschließen.
»Er hat
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