Jung genug zu sterben
Handy in der Hand.
Eine Weile beobachtete sie ihn aus der Distanz eines Steinwurfs. Er schien die beste Empfangsposition für sein Telefon zu suchen. Richtig – hatte sie überhaupt Kontakt mit ihrem Handy, zu Karl auf der Alp Grüm? Wie steht es hier oben zwischen den Gipfeln mit dem Empfang? Das Gerät aus dem Rucksack holen wollte sie nicht.
Plötzlich sah sich der Junge zu ihr um. Ein, zwei Sekunden, dann hatte er sich berappelt und war aufgesprungen.
Er kommt auf mich zu, dachte Melina und versuchte in Gedanken ihre Sachen zu ordnen: Habe ich das Pfefferspray zur Hand? Im Rucksack! Besser ist ein Stein, davon gibt’s genug. Beides ist absurd …
Der Junge kam wirklich gerannt – in Hechtsprüngen, die entweder seiner lange kauernden Haltung geschuldet waren – als müsse er sich strecken – oder den herumliegenden Felsbrocken –, um nicht zu stolpern.
Finster sieht er nicht aus.
Sie schätzte ihn versuchsweise auf fünfzehn.
Zwei Meter vor ihr blieb er stehen. Schwarze Baseballmütze, schwarze Jacke, schwarze Hose. Die Kleidung mit grauen Schlieren. Er lächelte – und warf sich vor ihr auf den Boden.
Sie wich einen Schritt zurück.
Der schlaksige Junge ging vor ihr auf allen vieren, die Knie und die Hände im Modder des Wegs. Ohne den Mundzu öffnen, machte er Töne mit der Stimme und gestikulierte mit dem Kopf. Dann nahm er die rechte Hand zur Hilfe und zeigte an, dass Melina ebenfalls herunterkommen und wie er auf allen vieren laufen sollte.
Sie hatte Platz, noch einen Schritt zurückzugehen. Aber er lief ihr wie ein Hund hinterher, sah sie bittend an, faltete einmal sogar die Hände wie zum Gebet.
Warum soll ich mich in den Dreck werfen?
»Nein«, sagte sie.
Hören und verstehen konnte er sie offenbar, seine Stimme und Gestik wurden nachdrücklicher.
Einer der roten Züge donnerte knapp über ihnen auf einem Felsvorsprung vorbei. Melina hatte nicht registriert, dass sie den Gleisen schon wieder so nah war. Die Telegrafenmasten an der Bahnlinie markierten die Strecke zum Ospizio Bernina.
Inzwischen wurde das Drängen des Jungen furios.
Als der Junge wieder traurig dreinschaute, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf: Was soll’s, wenn’s ihm Spaß macht. Sie erschrak über ihre Erwägung, wunderte sich, Jenissej vor dem geistigen Auge zu sehen, und ehe sie es mit sich ausdiskutiert hatte, ging sie vorsichtig in die Hocke, setzte die Finger in den glitschigen Sand und streckte den Hintern hoch. Mit der Hose wollte sie den Boden auf keinen Fall berühren. Außerdem hielt sie Blickkontakt.
Nicht, dass er über mich herfällt, wenn ich den Quatsch mache.
Er gestikulierte, sie solle sich auf allen vieren voran bewegen. Und machte es vor. Sie brauchte länger, Arme und Beine koordiniert zu bewegen. Die Hose sollte möglicht wenig Spritzer abbekommen. Zu blöd wollte sie nicht dabei aussehen.
Warum auch immer ich ihm diesen Gefallen tue.
Er lachte freundlich und schwenkte sein Handy. Melinas Fingerkuppen schmerzten schon nach wenigen Metern. Sie achtete darauf, mit den Fingern nicht auf einem zu spitzen Stein aufzusetzen. Dann entschloss sie sich, nachzugeben und das Gewicht wenigstens auf die flachen Hände zu verlagern. Der Junge freute sich. Er stand jetzt, und die Lateinstudentin Melina von Lüttich kroch auf ihn zu.
Weiter schwenkte er den Arm. Mit dem Handy.
Er filmt mich! »Hey! Nein!«
»Wieso nicht?«, rief der Junge, und sie stand auf, blieb aber stehen. Die Handflächen brannten. Kleine Steinchen krümelten von ihren Händen.
»Was soll das?«
Er steckte das Handy weg und reichte ihr die Hand. Nicht sauber.
»Nathan.«
Schon wieder hatte sie mit einem Prinzip gebrochen. Handkontakt. Aber er wirkte charmant, auf eine harmlose Art.
Sie fragte in mehreren Versionen nach dem Sinn der Aktion. Er ließ sich bitten.
»Und was hast du am See gesucht?«
Er holte wieder das Handy heraus. »Wir machen
Geocaching.
«
»Ja und? Soll mir das was sagen?«
Er hielt ihr das Gerät hin. »GP S-Ortung . Man muss Punkte in der Landschaft finden.
Geocaching
geht normalerweise über Internet, Leute verstecken Schätze an geheimen Orten, und die muss man möglichst schnell finden. Wir machen das anders. Jeder hat drei Zettel versteckt. Darauf stehen Aufgaben, die man machen muss. ManchmalRätsel, manchmal Mutproben. Danach kommen wir zusammen und zählen unsere Punkte.«
»Aha, und was war ich?«
»Du warst … Sie waren die Aufgabe. Ich sollte den nächsten vorbeikommenden
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