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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Passanten anhalten. Ohne zu sprechen, sollte ich jemanden dazu bekommen, auf allen vieren am See langzulaufen. Beweisfoto erforderlich. Können Sie mir noch auf Film sprechen, dass ich wirklich nichts gesagt habe?«
    Sie musste lachen. »So was Albernes!« Dann fiel ihr etwas ein: »Was heißt denn
wir?
Gehörst du zum PALAU?«
    Er riss die Augen auf. »W   … woher wissen Sie das?«
    »Ah, und ihr sitzt im Ospizio Bernina?«
    »Sitzen nicht gerade. Aber stimmt, ist unsere Ausgangsbasis. Ach Mist, dann zählen Sie ja nicht.«
    »Wieso?«
    »Na, wenn Sie zur Gruppe gehören. Sie sind auch Pädagogin, oder?«
    »Nein. Ja. Nein. Nicht bei PALAU.«
    Seine Augen irrten herum.
    »Du meinst, dein Foto von mir zählt nicht als bestandene Aufgabe? Doch, doch, ich werde deinen Leuten versichern, dass du es super gemacht hast.«
    »Cool. – Was machen Sie hier?«
    Sie wischte mit einem Taschentuch ihre Hände. »Melina von Lüttich.«
    »Aus Lüttich?«
    »Aus Berlin. Ich arbeite im
Institut Zucker

    Nein, mache ich nicht mehr   …
    »Kenn Sie gar nicht«, sagte Nathan.
    »Ja, komisch, nicht?«

46
    Jenissej saß im Schneidersitz auf den Parkettbohlen der Bühne, vorn am Rand des Orchestergrabens. Er schaute mit dem Rücken zum leeren Saal in den Bühnenraum – er blickte auf die Leinwand, die größer war als sein Sichtfeld. Abgesehen von den Notausgangs-Leuchten, die dauerglimmten, war der Film die einzige Beleuchtung im Theater.
    Er sah Lenas Filme. Datei 1 und Datei 2 hintereinandergeschnitten. Darauf folgte das gleiche Doppelpack, aber diesmal von Jenissej neu zusammengewürfelt. Dann wieder die beiden Originale. Zwei neue Varianten. Die Originale. Und so weiter. Am Cut-Altar war das schnell einprogrammiert, innerhalb einer Stunde hatte er es zusammengestümpert. Das Betrachten schien viel länger zu dauern. Vor allem blitzte nicht einmal ein Fünkchen dessen auf, was er erhofft hatte: dass ihm eine Idee kam, was Lena gemeint hatte.
    Jetzt rächt sich, was Pia mir vorwirft. Meine Intuitions-Manie. Sie liest ein Buch von Alpha bis Omega. Ich blättere hierhin und dorthin, lese quer, wirble damit herum, unterstreiche drei Stellen, reiße eine Seite heraus, feuere das Buch in die Ecke – und glaube, daraus ein Stück machen zu können. Ohne es je noch mal zur Hand zu nehmen.
    Es gelingt mir immer wieder.
Jenissej hat Händel nicht interpretiert, er hat ihn nicht porträtiert, er
IST
Händel!
Wie viele Zeilen über ihn, wie viele Noten von Händel hatte ich in mir aufgenommen? Fast nichts! – Den Lingen kapiere ich seit der Schulzeit, weil ich ihn heimlich parodiert habe. Von einer Sekunde zur nächsten fühlte wie er. Seine Tochter,seine Frau, die Angst vor den Nazis, die Rollen, das Bleibenmüssen in Deutschland. – Warum gelingt mir das bei Händel und nicht bei Lena?
    Er war dem Bild viel zu nah. Die unsinnige Hoffnung, in das Bild hineingleiten zu können, wenn man nur nah genug ist, unscharf genug. Er stand auf, lief eine Seitentreppe hinunter und suchte einen Mittelplatz in der dritten Reihe.
    Lena greift in die Erde. Die Kreise, alle weiß, nur einer schwarz.
    Vor sich sah er Pia, außer sich. Natürlich war es ein Fehler, ihre Probe zu stören. Ihre Fahnen wegzuschieben, herumzukrakeelen, sie auch noch auf die Besitzverhältnisse hinzuweisen. Wem das Theater gehört. Was auch immer mit mir, in mir passiert. Ich bin das nicht. – Warum hat Pia Melpomene in die Schweiz fahren lassen? Ohne mit mir zu sprechen. Aha. Verletzt bist du! – Sie raus, ihre Fahnen mitgenommen, ihre Leute, alles verflucht. Will nie wieder kommen. – Er lächelte in den leeren Theaterraum. – Das hält bei ihr acht Stunden. Zehn maximal.
    Ohne bewusst darauf zu achten, zählte er die Zehntelsekunden bei Lenas Schnitten.
    Was du machst, ist nicht intuitiv, es ist analytisch. Das ist nicht deine Stärke, das kannst du nicht! Du kannst nur Intuition. Also das ansehen, was da ist. So viel wie möglich davon unter den Tisch fallen lassen und dabei auf den Bauch hören. Intuition ist Analyse mit Informationsreduktion.
    Woher wussten die Feldherren der Geschichte, welches die Stunde, die Minute, die Sekunde für einen Angriffsbefehl ist? Reines Kalkül? 100   Sekunden nach Beginn des ersten Hahnenschreis? Oder haben sie alle zweitausend Soldatenherzen gefragt, wie sie sich gerade fühlen? Nein. Informationsreduktion.Wissen und Nichtwissenwollen. Und dann entscheiden.
    Das trägt mich durch mein Leben.
    Nur bei   … Nur bei Lena

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