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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Spaghetti geben muss. Die kapieren gar nicht,
dass sie in der Schweiz sind. Egal, es gibt Wichtigeres.
    Mein Semester zum Beispiel. Ich habe drei wichtige Klausurtermine
versäumt, und meine Magisterarbeit über den
›abl-abs‹ (Ablativus absolutus und sein Einfluss auf die Semiotik
im Spätrömischen Sprachgebrauch) kann ich mir abschminken
– das Thema wurde ohne Rücksprache mit mir
vergeben, wie mir mein Prof eben gemailt hat.
    Haben Sie inzwischen Hinweise in Lenas Filmen gefunden?
Bitte rufen Sie mich an, falls Sie eine Deutungsmöglichkeit erwägen, auch wenn es nur der leiseste Verdacht ist. Je länger
ich darüber nachdenke, für desto wahrscheinlicher halte ich
es, dass Lena hier in der Nähe ist. Sie ist kein Fluchttier, sozusagen. Ich kenne sie ein bisschen. Wenn sie mal einen – kleinen
– Lapsus im Institut begeht, bleibt sie da stehen, wo sie ist.
Sie steht dann und sucht, bis sie weiß, wie es besser laufen
könnte. (Übrigens bewundere ich das an ihr. Sie auch?)
    Jedes Mal, wenn ich einen Menschen sehe – hier im Restaurant, in der Bahn oder draußen   –, schaue ich, ob es Lena ist.
Ich muss aufpassen, dass das nicht zur fixen Idee wird. Mein
Kopf beschäftigt sich nur noch mit ihr. Aber, wie gesagt, es
würde mich wundern, wenn sie die Schweiz verlassen hätte.
    Im Moment sind die Jugendlichen aufgedreht – sie müssen
ihre Abenteuer vom Tag verarbeiten. Außerdem haben sie
Aufgaben bekommen, die sie bis zum Kaminabend lösen sollen. Ich bin eingeladen und werde hingehen. Vielleicht vertraut
sich einer mir an – wg. Lena.
    Die Aufgabenpräsentation wird eine Qual. Ich hasse das,
wenn sie Handstand machen müssen oder sich ein Rollenspiel
ausdenken sollen. Die immer gleichen Verhaltensmuster. Die
einen produzieren sich. Ich weiß, dass das Pubertätsgehabe ist
und teilweise zur Entwicklung gehört. Aber ich halte es immer
weniger aus. Und dann fällt mir auf, dass ich erst 23 bin und
schon wie eine 6 3-jährige Lehrerin spreche. Eine, die das alles
satt hat.
    Was hat mich veranlasst – ich weiß es nicht mehr   –, ausgerechnet
Lehrerin zu werden? Ich schlage ein Buch Latein auf
und weiß: Das ist mein Leben, das ist »Familie«. Ich brauche
keinen festen Freund, solange ich ein Lateinbuch habe. Hört
sich schlimm an, oder? Dabei will ich mich gar nicht von der
Welt abwenden und mich hinter einem Buch verstecken. Die
Grammatik ist keine Ersatzbefriedigung. Aber im Lateinischen
kann man eben nicht schwafeln. Die Aussagen, die
Sätze sind klar und wahr. Das hat nichts damit zu tun, dass
ich mich von Menschen abwenden will. Sondern einfach, dass
ich die Verlässlichkeit klarer Sätze mag.
    Offensichtlich kann man im Deutschen viel dummes Zeug
reden und schreiben, ich erbringe gerade den Beweis. Bitte
entschuldigen Sie, dass ich die Mail als Therapiestunde missbrauche.
    Ich informiere Sie, sobald ich das geringste Zeichen von
Lena entdecke. Bitte vice versa.
    Melina
     
    Sie scrollte an den Anfang der Mail und ging den Text nach Grammatikfehlern durch. Sie löschte überflüssige Wörter. Sie löschte Einschübe und Klammerungen. Und sie löschte alle Ausführungen zum Studium und zu ihren Zweifeln. Als sie es senden wollte, verschwand die geänderte Versionvom Bildschirm. »Ein unerwarteter Fehler ist aufgetreten.« Allerdings! Die ursprüngliche Version der Mail war noch vorhanden. Melina tippte auf »senden« und bereute es sofort.
    Sie hatte den Internetanschluss des Hotelrestaurants genutzt. Im Mondlicht strahlte die Wand aus Restschnee, der Weg davor war dunkel und kalt. Vom Restaurant zur Hütte der Gruppe musste Melina nur hundert Schritte hinaufgehen. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt und verbiss sich ein albernes Zähneklappern. Christine hatte ihr angeboten, in dieser Nacht bei ihnen zu bleiben, und Melina hatte es unhöflich gefunden, dem strahlenden Lächeln zu widersprechen.
    Als sie im Vorraum die Schuhe auszog, bedauerte sie die Entscheidung. Eine weitere Runde mit Gerangel, Knuffereien, Keifereien, Kneifereien   … Aber drinnen war es dunkel. Melina hörte ein Klopfen. Rhythmus.
    Die Gruppe saß im Halbkreis vor dem Kamin. Das Feuer war die einzige Beleuchtung. Christines blonder Haarschopf stach hervor, und mit ihrem kräftigen Körperbau bildete sie einen Schwerpunkt im Halbkreis. Melina setzte sich hinter Susan, Pär und Mathilde, die Einzigen, die am Tag diszipliniert und ausgeglichen waren.
    Der Rhythmus ähnelte einer afrikanischen Trommelei. Es war

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