Jung genug zu sterben
Geschichte, um Lena zu entlasten. Ich weiß nicht, ob sie sich das ausgedacht haben oder ob Lena sie unter Druck setzt. Es gibt einen Ausweis, in dem Sikorskis Arzt mit Telefonnummer steht, das wohl. Aber einen Ausweis mit einer Warnung vor Antiepileptika werden Sie nicht finden. Weil es ihn nicht gibt.«
»Sagt Lascheter?«
»Sagt …
man.
«
»Schaumschläger. Schon der zweite Strich bei Schaumschläger.«
»Ich meine es ernst. Ich bin in Sorge. Ihre Ironie kann ich nicht nachvollziehen.«
»Ironie? Da täuschen Sie sich. Für so was haben wir bei der Polizei weder die Zeit noch den Nerv noch das Gen. – Ihnen noch einen gesegneten Sonntag! Ist ein undankbarer Job, am Sonntag im Büro, hm?«
»Ich rufe von zu Hause an.«
»Ach so, dann können Sie mir die Gutachten nicht faxen, oder?«
Melchmer brauchte keinen Müller-Anonymus, um an die Gutachten zu kommen. Er konnte sie sich offiziell mailen lassen. Sie waren beide in der Nähe von Broglis Leiche gefunden worden.
Medizingebrabbel und Wichtigtuerei!
Lascheters ausführliches Gutachten fand er unverständlich. Der Mann hatte dem toten Jungen das Gehirn entnommen, aber er war nicht in der Lage, das, was er da gefunden hatte, so zu formulieren, dass ein Kommissar es verstehen konnte. Klar war nur eines: Jan Sikorski hätte rechtzeitig seine Medikamente bekommen müssen, die ihn vor einem epileptischen Anfall während der Reise schützen sollten. Nur unter dieser Maßgabe habe er, Lascheter, der Teilnahme seines Patienten zugestimmt.
Brogli war in seinen Sätzen weniger verschwurbelt. Er trete dem Gutachten Lascheters in allen Punkten bei. In einem längeren Abschnitt legte er dar, weshalb die Sektion Sikorskis ausgerechnet vom behandelnden Arzt vorgenommenwurde. Brogli erklärte, auch deshalb habe er sein Gutachten erstellt.
Der ursprünglichen Sorge, das Hirn des Patienten sei physiologisch
deformiert, ist die Grundlage entzogen, denn ursächlich
für unsere Falschinterpretation der Bilder waren
Reste des Kontrastmittels MyoTargetin N. Es verursacht keine
Gesundheitsschädigungen und ist somit nicht für den Tod des
Patienten verantwortlich. Einzuräumen ist auch, dass etwaige
allergische Reaktionen, die wir zunächst für todesauslösend
hielten, nicht zu bestätigen sind. Vielmehr hat offensichtlich
der epileptische Anfall selbst zu Schädigungen geführt.
Der Patient hätte seine Standardmedikamentation erhalten
müssen, dies ist jedoch offenbar über Tage ausgeblieben. Neben
den genannten anfallsbedingten Schäden trug mit hoher
Wahrscheinlichkeit die eingebrachte Dosierung von
Flumazenil
zum plötzlichen Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems
bei. Es musste ja bei der Sedierung angenommen
werden, dass der Patient als Epileptiker bereits Antiepileptika
eingenommen hatte. Andernfalls hätten wir eine andere Dosierung
veranlasst.
Bin ich jetzt schlauer?
Immerhin eröffnen sich neue Fragen. Zum Beispiel die: Wenn das
MyoTargetin
bei Jan Sikorski nichts anrichtet, weil es harmlos ist – weshalb bekommt es bei Brogli die fiese Eigenschaft, den Jungen zu töten?
Und diese Frage: Hat Brogli seinem Kumpel Lascheter nur zum Munde geredet, als er das Gutachten tippte? Oder ist Brogli als Leiche noch mal aus der Röhre geklettert und hat den Text erst nach dem Mordanschlag verfasst?
Hier schiebt jemand die Dinge so, wie er sie haben möchte.
Gibt es eine Verbindung zwischen Jan Sikorski vomPALAU und seinen unglücklichen Ärzten, dem
Institut
Zucker
und Lena? Außer Lena? Ja. Gibt es. Eine Person, und die heißt Melina von Lüttich.
Wo steckt die eigentlich?
Wäre nicht das erste Mal, dass eine Vermisstenanzeige vom Täter respektive der Täterin aufgegeben wird, um von sich abzulenken. Ihre Sorge um Lena – eigentlich übertrieben … Melina von Lüttich stachelt Lenas Vater an. Vielleicht schickt sie Jenissej in die falsche Richtung. Und mich auch. Was sind das für Versuche, an denen Melina mitgewirkt hat? Was ist, wenn sie Jan Sikorski schon mal in der Mangel hatte?
Er rief bei Melina an, aber niemand nahm ab.
45
Wenn die Gruppe von Ospizio Bernina nach Alp Grüm wandert, kann ich ihr entgegenlaufen.
Melina hatte sich von Karl eine Karte geben lassen. Sie bestätigte ihr, dass zwischen den beiden Orten nur der eine Hauptwanderweg existierte. Allerdings gab es vor dem Lago Bianco Abzweigungen zum Sassal Mason, dem Dreitausender, den die Geschäftsführerin erwähnt hatte.
»An zwei Stellen musste der Weg beräumt werden«,
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