Jung genug zu sterben
nicht.
Er sah dieses Wachsgesicht von Lena. Lena, der Säugling. Die geschlossenen Augen neben Hesthers Gesicht. Drei, vier Stunden nach der Geburt, diesem Schock, ans Licht zu kommen, die Geräusche der Straße und der Krankenhausgänge zu hören. Lena, die Dösende. Ihr Schlaf wie der Tod, nur unendlich hoffnungsvoller. Und die Idee: Lena – der Strom in Sibirien. Natürlich war Lena ein Winzling. Der Strom gewaltig. Aber diese Lust, dieses Würmchen nach dem Strom zu benennen! Nicht rational, rein intuitiv. Und Hesthers Lächeln dabei.
Natürlich war nicht Lena so gewaltig. So unendlich. Sondern meine Liebe. Die Hoffnung in diesen geschlossenen Augen.
Die Filmbilder sagten ihm nichts.
Ein Rotwein wäre nicht schlecht. Oder zwei Whisky. Schaltet die besonders streberhaften Nervenzellen für eine Weile aus! Es sind zu viele. Bei manchen Leuten funktioniert das. Sie trinken sich vom Analytiker zum Intuitiven. Bei mir reicht’s nur, nach dem ersten Schluck über der Kloschlüssel zu hängen. Schön – ich kann nie Alki werden.
Italia
war gerade auf der Leinwand.
Für einen Moment sah er nicht den Film, sondern die Leinwand auf der Bühne. – 1987. Das leere Theater in Berlin. Niemand ist da. Ich laufe hin und her. Fange an zu deklamieren. Hüpfe. Lege mich, zitiere Sprüche. Steppe. Heule, renne, tanze Tango mit mir, verneige mich vor einem nicht vorhandenen Publikum. Das Theater, in dem ich Inspizient war. Jede Nacht hatte ich es für mich allein. Dachte ich. DieLichter im Schnürboden gehen an. Applaus von hier und da. Sie haben meine Heimlichkeiten auf der Bühne beobachtet, sagen sie. Und aufgezeichnet, sagen sie. Mein Deklamieren, mein Hüpfen, meine Sprüche, meinen Stepptanz, mein Heulen und meinen Tango. Auf Video!
Tja, Jenissej, was
bleibt mir noch? Ich habe dich gesehen, du Schurke. Ich lasse es
dir, das Theater. Mach was draus!
Jenissej schaute auf Lenas Bilder und verstand sie nicht. Er rollte sich auf seinem Sitz ein. Er presste die Hände auf die Ohren, obwohl es zu Lenas Filmen keinen Ton gab. Er fühlte den Schweiß und seinen Atem in den Händen. Schüttelfrost?
Ohne dass er es gewollt hätte, reckte sich sein Kopf nach Luft, der Mund öffnete sich, und er schrie nach Leibeskräften: »Schroeter!« Und noch einmal.
Irgendwo muss die Bazille doch stecken.
Sehr. Sehr leise kam aus der letzten Reihe von Jenissejs Theater eine Stimme. Leise aus dem Dunkeln. »Ich bin ja da.«
Jenissej fuhr herum. »Oskar?«
»Ja doch.«
»Nimm dir diese Filme vor, Oskar. Sieh sie dir an. Ich verstehe sie nicht. Ich. Verstehe. Es. Nicht.«
Schroeter schwieg in der Dunkelheit.
Irgendwann spürte Jenissej die Hand seines Cutters auf seiner Schulter. Zum ersten Mal. »Ich verstehe es auch nicht. Aber hau dich mal hin, Blödmann! Schlaf ’ne Runde. Ich mach das! Ich mach das schon!«
47
Lieber Jenissej!
Melina löschte das »Lieber« und ersetzte es.
Sehr geehrter Jenissej,
heute bin ich in der Schweiz angekommen, auf der Alp Grüm.
Leider keine Lena. Die aktuelle PALA U-Jugendgruppe ist eine
Bahnstation weiter in einer netten Hütte mit Selbstversorgung
untergekommen, in einem Ort namens Ospizio Bernina. Das war früher mal ein Krankenhaus.
Die Leiterin der
PALA U-Gruppe
, Christine, habe ich früher
schon mal gesehen, bin mir aber nicht sicher. Ich hatte den
Eindruck, dass sie von meiner Ankunft nicht überrascht war,
aber ich kann mich täuschen. Sie hat die Truppe im Griff, das
muss ich sagen. Ihrem Versuch, mich als Co-Leiterin einzubeziehen, habe ich mich entzogen und wohne deshalb im Bahnhofshotel
der Alp Grüm.
Christine ist nicht die Leiterin der vorigen Gruppe, in der
Jan Sikorski den tödlichen Unfall hatte. Der Vorfall steckt ihr
trotzdem in den Knochen. Sie haben das Programm geändert.
Sie sagt selbst, dass sie weniger Risiken eingeht als früher.
Zum Beispiel bei der heutigen Schnitzeljagd, die sie hier Geocaching
nennen. (Ich musste den Kids wirklich erläutern, was
eine Schnitzeljagd ist, sie kannten alle nur paniertes Schweinefleisch.)
Es war nicht leicht, Christine nach Lena zu fragen, und sie
sieht es nicht gern, wenn ich die Jungs und Mädels nach ihr
frage. Kann ich verstehen. Es bringt Unruhe in die Gruppe.
Einige kennen Jan und/oder Lena. Einen brauchbaren Hinweis
habe ich nicht erhalten – und das, obwohl ich mich extra
am Essenkochen in der Hütte beteiligt habe. Übrigens gab es
Spaghetti. Mir scheint, das ist ein ehernes Gesetz für Teenie-Touren, dass es
Weitere Kostenlose Bücher