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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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hatte Karl gesagt, und er erklärte ihr, dass Schneedecken wie Gletscher über die Wege gerutscht waren. Man habe kleine Bagger einsetzen müssen. »Du solltest nicht alleine gehen.«
    »Ich habe Handy, feste Schuhe, Wasser und Regenjacke«, sagte Melina. »Was brauche ich noch für einen Spaziergang, der nicht mal eine Stunde dauert?«
    »Es ist ein Bergwanderweg. Da geht man mindestens zu zweit.«
    »Du weißt, wo ich bin. Ich habe das Handy.« Sie hatte sich auf seine Duzerei eingelassen. Länger als zwei Tage würden sie nicht miteinander zu tun haben, da konnte sie sich schon mal drauf einlassen.
    Den Anfang des einzigen Weges kannte sie schon: über die Gleise, steil zu dem Restaurant hinauf, das in dunkler Zeit Fliegerbeobachtungsposten gewesen war und das ihr einen üblen Traum beschert hatte. Die Steigung gehörte zum Prü dal Vent, dem Hausberg der Alp Grüm.
    Die Sonne kam heraus und glitzerte auf den metallenenLawinenbrechern, von denen einige sehr verbogen waren. Melina passierte Trockenmauern und sogar einen kleinen Lärchenwald, während sie auf eine Hochspannungsleitung hinabblickte, die unten durchs Tal führte. Die Berge waren von senkrechten Linien durchzogen – entweder Rinnsale und Wasserfälle des Schmelzwassers oder Runsen mit den Spuren abrutschenden Gesteins.
    Wiesengrün wechselte sich mit größeren Schneeflächen ab, die abrupt am Wegrand endeten. Eine dieser Schichten war fast so dick wie Melina groß war.
    Wie Gletschereis, dachte sie und bohrte mit der Hand ein Loch in die Wand am Wegesrand. Gute Trinkwasserreserve. Dann sah sie die Schneefläche hinauf, die über ihr auf dem Hang lag, fragte sich, ob die als Ganzes ins Rutschen geraten könnte – und lief zügig weiter.
    Wo die Sonne wärmte, roch es nach Erde und nach Wald. Schon schwirrten Fliegen vor Melinas Gesicht.
    Wenn der feuchte, aber feste Weg ein Stück bergab ging, bedauerte sie es, weil sie schon die erneute Anstrengung hinter der nächsten Biegung ahnte. Einmal schien unterhalb des Wegs eine Holzgalerie der Bahn aus dem Felsen zu wachsen. Von nun an kreuzte die Bahnlinie mehrfach Melinas Weg, der nun so breit war, dass man auch mit einem Auto hätte entlangfahren können, wenn man das Verbotsschild ignorierte.
Solo autorizatti
stand darunter. Das runde Verkehrszeichen
Durchfahrt verboten
hatte wie in Deutschland einen roten Rand, aber die Innenfläche war nicht weiß, sondern rosafarben.
    Ohne Vorankündigung tauchte die Sonne in eine Wolkenmatte. Es wirkte endgültig. Melina erreichte das Ufer des Lago Bianco. Hatte sie im Sonnenlicht noch jede einzelne Ader der Berge gesehen, jeden Schatten eines Steins,erkannte sie im indirekten Licht nur den Kontrast schwarzer und weißer Flecken.
    Killerwale.
    An der Stelle, an der sie den Abzweig zum Sassal Mason erwartete, gab es keine Wege mehr – ein Eisbuckel hatte sich über die Ebene gelegt und die Kreuzung unter sich begraben. Die Spitze eines Wegweisers schaute hervor, aber so versteckt konnte er keinen Weg weisen. Melina sah, dass es seine eigentliche Bestimmung war, in mehrere Richtungen zu zeigen.
    Sie war nicht beunruhigt, denn sie kannte die grobe Richtung. Sie musste rechter Hand dem Seeufer folgen, dann käme sie zum Ospizio Bernina. Der warme, sonnige Waldweg lag keine Viertelstunde hinter ihr. Jetzt war sie froh, die gefütterte Jacke dabeizuhaben.
    Sie blieb stehen und schaute sich um. Bislang war ihr niemand begegnet. Sie überquerte die Eiskuppe und stand inmitten von Geröll. Schwarze Steine von Kieselgröße bis zu den Ausmaßen eines Einfamilienhauses, alle mit grünem Moos und hellen Flechten. So finster kündigte sich der Sassal Mason an. Eine überkragende Felswand und noch darüber, im Himmel über einem dunkelgrauen Steilgipfel, kreisten Vögel in der nebeligen Thermik, groß und ohne Flügelschlag.
    Hier gab es keine Blümchen oder Lärchen.
    Wovon ernähren sich diese Vögel?
    Sie wandte sich zum See. Einer der Findlinge, direkt am Wasser, hatte eine eigenartige Form. Er war mehrere hundert Meter entfernt und ähnelte einem Wildschwein.
    Wildschwein   …! Hier!
    Oder ein zusammengekauerter Mensch.
    Melina musste aufpassen, nicht zu stolpern, weil sie denStein fixierte. Zweimal dachte sie, es könnte doch ein Mensch sein, dann glaubte sie wieder an einen Findling. Bis sich der Stein bewegte.
     
    Der Junge suchte etwas. Vielleicht. Als Melina näher kam, sah es aus, als wolle er auf islamische Art beten, verharre aber vornübergekippt, mit einem

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