Jung genug zu sterben
Nathan, der auf seiner Gitarre nicht spielte, sondern klopfte. Ein, zwei Mal wischte er über die Saiten. Jasmin hob eine Stange ans Gesicht, die im Kaminfeuer blitzte – eine Querflöte.
Nathan trommelte leiser, und Jasmin spielte. Der Raum war sofort von dem Klang erfüllt. Es war eine langsame, schlendernde Melodie, in die sie Triolen und Triller einbaute. Melina kannte das Stück nicht. Sie schaute sich umund sah die stillen Gesichter im Schein des Feuers. Manche sahen zu Jasmin, andere träumten in die Flammen. Ole und Kit hielten sich umarmt. Beim Nachtisch hatten sie sich noch getrennt.
Melina schloss die Augen. Sie konnte den Stil nicht einordnen. Etwas Barockes war unverkennbar, aber das Schweifende passte nicht ins Muster. Jasmin blies manchmal nur schwach, so dass man mitbekam, wie aus Atem Musik wurde, und sie holte hörbar Luft zwischen den Takten.
Als sie die Flöte absetzte und Nathan der Gitarre den letzten schweren Klaps gegeben hatte, herrschte – Stille. Jasmin begann, das Instrument zu reinigen. Erst jetzt applaudierten die Jugendlichen, die ganz woanders gewesen waren.
Melina gab sich einen Ruck. Möglichst nicht zu laut fragte sie: »Wunderschön. Was war das?«
Jasmin zuckte mit den Schultern. »Haben wir uns ausgedacht.«
Christine sagte: »Jeder soll etwas vorstellen, das er in seiner Kleingruppe vorbereitet hat.« Und an die beiden Musiker: »Habt ihr vorher schon mal miteinander gespielt?«
Sie schüttelten die Köpfe und waren peinlich berührt.
»Habt ihr eurem Stück einen Namen gegeben?«, fragte Christine.
»Ja«, sagte Nathan und zog sich sogleich wieder zurück, blickte auffordernd zu Jasmin.«
»Es heißt:
Christine
.«
»Oh.«
Melina erwartete Feixen und Kommentare, wie beim Essen. Aber die Jugendlichen schauten alle zu Christine. Einige lächelnd, andere nicht.
»Das ist lieb«, sagte Christine, deren rundes Gesicht imKaminschein sehr hübsch war. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und hatte Mühe zu sprechen. »Danke euch beiden. – Wer möchte jetzt?«
Zaghaft kam ein Klüngel in Bewegung.
»Wir haben uns was überlegt und wollten euch fragen, ob ihr mitmacht, wenn wir wieder in Berlin sind. Los, Timo, mach du weiter!«
»Ja … Und zwar haben wir doch im PALAU so ein Hospiz.« Er fuchtelte mit den Händen, machte doppelt so viele Gesten wie Wörter, die Arme zu lang. »Oder sogar mehrere, glaube ich!? – Na, jedenfalls … Wir haben überlegt, dass das echt scheiße ist, wenn man stirbt.«
Lachen, aber verhalten.
»Ja, und wenn die alten Leutchen wissen, dass ihnen nichts mehr hilft und sie in ein paar Wochen oder so sterben müssen oder so, dann wär’s gut, wenn sie nicht allein sind oder so ähnlich. – Und dann haben wir doch auch, im Krankenhaus von PALAU, so Säuglinge und Neugeborene, die da so in ihren Brutkästen liegen, verstehste, und die sind doch auch ganz krass allein.«
»Klar sind da manchmal Eltern und Ärzte, das ganze Zeugs. Aber in der Nacht zum Beispiel, da liegen die meistens ganz allein bei Neonlicht in diesen Kästen, und keiner ist da, der sie streichelt.«
»Genau. Deshalb haben wir uns einen Plan überlegt. Wir stellen die Brutkästen bei den alten Leutchen ins Zimmer. Dann freuen die sich, und beide sind nicht einsam.«
»Natürlich fragen wir vorher, Alter!«
Lachen. Respektvoll.
»Meine Oma hat da gelegen. Wir haben sie jeden Tag besucht. Trotzdem war oft keiner da. Die haben ihr dann eine Katze geliehen. War ganz okay. Aber es war ja nicht ihre.Und echt, wenn ich alt bin und abkrepele, will ich nicht, dass mir einer einen Papagei ins Zimmer stellt oder so.«
Lachen.
Christine schaltete sich ein. »Die Frühchen müssen natürlich vor Keimen geschützt werden … «
»Die Alten sind ja nicht alle verkeimt, bloß weil sie sterben!«, protestierte Timo.
»Nein, schon klar. Ich wollte euch nur darauf hinweisen, dass es mit dem Streichelkontakt nicht ganz so einfach sein dürfte.« Christine sah fragend zu Melina.
Die fühlte nur einen Kloß im Hals; als Entgegnung fiel ihr nichts ein.
»Ich hab mal Frühchen im Praktikum gehabt«, sagte Jasmin. »Die liegen da ganz allein und ohne Decke drin, mit ganz vielen Kabeln. Man durfte die berühren, durch so eine Röhre. Aber manchmal waren die Eltern krank oder tot oder so was.«
Kit ließ beim gestikulieren Oles Hand nicht los. »Wenn ich ganz alt bin, würde ich es, glaub ich, schön finden, wenn ich so einen Säugling sehe. Auch wenn die einfach nur den
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