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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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weil sie sich danach nicht mehr gemeldet hatte. Vielleicht, weil sie der Melpomene eine schlechte Videoaufnahme gemailt hatte.
    Er erhob sich und lief im Raum herum. Nahm langsam die Stufen der Wendeltreppe hinauf, einfach, um den Ort zu wechseln. Das langsame Gehen auf den Stufen hatte sich ihm eingeprägt. Denn die Stahltreppe fing an zu »singen«, wenn sie unter den Tritten vibrierte. Man konnte das bis auf die Bühne hören. Es war in einer stillen Szene seiner Inszenierung
Tochter der Taliban,
als er die merkwürdigen Töne hörte. Sie störten einen inneren Monolog. Seitdem gab es Wendeltreppenverbot während aller Aufführungen.
    Über dem Keller lag der Schnittraum. Ursprünglich hatte Jenissej beide Bereiche strikt voneinander getrennt: unten die Ideen und Modelle, oben das Filmmaterial, die Konzentration auf die Montage der Bilder. Aber irgendwann hatte er damit begonnen, Sachen von unten nach oben und von oben nach unten mitzunehmen, und inzwischen wirkten beide Räume auf außenstehende Besucher gleichermaßen – chaotisch.
    Die Melange war vielleicht auch nur ein Spiegelbild seines Schaffens, in dem Film, Fotografie, Bühne und Tanz längst miteinander verschmolzen waren. Jenissej, der sich, wenn es sein musste, am ehesten als
Medienchoreograph
bezeichnete, bevorzugte allerdings von beiden Kreativräumen den Keller und überließ den Schnittraum seinem Cutter.
    In seinem Kopf wurde immer wieder aus der Baby-Lena die leicht frauliche Lena. Immer wieder und immer schneller. Er nahm die mit Leder bespannte Tür, die vom Schnittpult direkt auf den Bühnenraum ging. Natürlich war es dunkel im Theater. Schemenhaft flirrten einige wenige Lichtpartikel vom Schnürboden herab, wo es vier Dachluken gab. Und grün sumpften die Notausgangleuchten vor sich hin.
    Jenissej stellte sich vorn an den Orchestergraben, genauin die Mitte. 833 leere Sitze starrten ihn an, versuchten, in der Dunkelheit etwas von ihm zu erfassen. Er setzte sich auf den Boden. Schneidersitz. Die Hände auf dem Holzboden. Der Geruch von frischem Tabak stieg ihm ins Hirn, nicht in die Nase. Tabak, angenehm und mild, aber momentan nicht hilfreich.
    Er legte sich auf den Rücken, die Füße in Richtung Publikum, exakt gerade ausgerichtet. Er schloss die Augen für einen Moment. Und schlief sofort ein.
     
    Als Jenissej erwachte, lag er noch immer mit anliegenden Armen klar ausgerichtet auf den Bühnenplanken. Die Lichter der Notausgänge schienen heller geworden zu sein. Sie strahlten das Durcheinander des Schnürbodens an.
    Er setzte sich auf. Warum war ihm das nicht vorher klar geworden? Wieso habe ich das nicht gesehen?
    Er sprang auf und suchte nach der schwarzen Tür in der schwarzen Wand. Vom Schnittraum schnell die Treppe hinunter in den Keller. Kling-klong-kling-klang – Orchestergetöse mit Nachhall.
    Die Computer wecken, die vor sich hin dösten und das als Energiesparmaßnahme ausgaben. Zu den Mails gehen, die verhassten Postfächer durchsehen.
Sie haben 214 ungelesene
Mails
. Na schön, andere Leute bekommen gar keine Post. Sind auf die Briefseelsorge angewiesen.
    Aussortieren der Mails ohne Anlagen. Dann nach Dateiarten. Die Sache war ja so klar: Warum hatte Lena die Videodatei an Melina geschickt? Weil sie wusste, dass ihr Vater, der große Medienchoreograph, das Medium Mail verabscheute. Sie nicht las. Nur gezwungenermaßen. Also hätte sie es immerhin versuchen können.
    Tatsächlich! Im Eingang eine tagealte Nachricht. KeinAbsender. Typisch Lena. Eine
F3L
-Datei, die sie nie zuvor verwendet hatte.
    Die Datei ließ sich sofort öffnen. Der Bildrahmen nahm nicht, wie zuvor die Kopie von Melina, nur die Größe eines Briefumschlages ein, sondern griff auf den ganzen Bildschirm über.
    Er tippte F7, schaltete alle vier Bildschirme parallel und startete den Film. Exzellente Bildqualität, dafür hatte er
F3L
gemacht. Aber es war der gleiche Film, den er schon mehrfach gesehen hatte. Das ganze Hin und Her mit Melina hätten sie sich sparen können, das Kopieren, die verschneite Qualität. Er hatte das Original von Anfang an in seinem Postfach.
    Während Lenas Hand in der Erde wühlte, fragte er sich, warum er erst schlafen musste, um auf diese Idee zu kommen. Manchmal ist es ja so: Das Gehirn scheint weiterzuarbeiten während des Schlafes. Unbehindert durch die Beschränkungen der Tageslichtlogik mäandern die Gedanken in der Nacht durch Träume und Ideenwelten. Und manchmal stoßen sie versehentlich zurück in die Alltagswelt, wo

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