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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Offenkundiges nicht angefasst wurde.
    Krieg dich ein. Klar, die Träume sind deine Inspiration. Aber hier – da ist wieder dieses Porträt, entsetzlich in die Sonne gehalten. In der guten Auflösung ist es sofort zu erkennen: Das bin ich! Ein Foto von mir, das haben wir im Automaten gemacht, Lena und ich. Ich erinnere mich. Pistazieneis. Kastanienallee. Erst die Sonne, dann der Gewitterwolkenbruch. Mit nackten Füßen über den nassen, warmen Asphalt. Einer der letzten Ausflüge mit ihr.
    Foto von mir, gegen die Sonne gehalten. Was soll das?
    Er grübelte über der Frage, weshalb Lena ihm einen Film schickte, in dem sie ein Passfoto von ihm im Gegenlicht abbildete.Es war eine warme Welle, die über seinen Bauch schwappte: die Erkenntnis, dass seine Tochter trotz allem dieses Foto aufbewahrt hatte. Und es ihm zeigte.
    Vielleicht ist das gar keine Rührung, die mich vom Warum abbringt, sondern ein Teil der Lösung. Sie will mir zeigen, dass sie sich mit mir versöhnt. Na ja, mit mir abfindet.
    Das Wackeln hörte auf. Nach einer Weißblende kam das Standbild mit dem Kreis und dem Kreuz. Eindeutig in Sand gemalt. Was er zuvor als parallele Striche quer durch den Kreis gedeutet hatte, waren gebogen gezeichnete Ringe, die den Kreis wie einen Planeten umfassten.
    Der Saturn? Aber was soll das Kreuz auf dem Planeten?
    Die Ringe bestanden aus exakt parallel gezeichneten Linien. Acht Linien in gleicher Reihenfolge. Offenbar war es eine sehr große Sandzeichnung, sonst hätte man die acht Linien nicht so gut hinbekommen.
    Ende.
    Diesmal musste er die Kontraste nicht verändern. Alles war zu erkennen. Jedes Wackeln, jede Pore in Lenas Gesicht, jeder Sonnenstrahl über, unter und neben dem Passfoto, das sie in die Kamera hielt, jedes Sandkorn.
    Dennoch war ihm nicht klar, was Lena ihm sagen wollte.
    Dieses Gefühl, immerhin, war ihm nicht neu.

9
    Ein Mann streifte Melina mit seiner Aktentasche und fluchte. Ein Radfahrer blies in seine Trillerpfeife, weil sie auf dem Gehweg stand und ihm nicht auswich. Sie klammerte sich an das Tor und hoffte, dass ihr doch noch jemand öffnete. Schon wieder kam hinter ihr eine Straßenbahn herangefahren. Rausdrängeln, reindrängeln. In den Gesichtern der Leute stand die Enttäuschung darüber, dass die zwei freien Tage so schnell vorübergegangen waren.
    Es ist peinlich, aber egal.
    Sie räusperte sich und entschloss sich zu schreien. Die Straßenbahn klingelte Alarm, ihre Stimme ging unter.
    Ich und schreien!
    »Hallo!«
    Da ist der Typ mit der Latzhose!
    »Hallo!«
    Ich und mit dem Pulli wedeln!
    Für Melina lag in diesen zwei Minuten die ganze, sonst auf das gesamte Jahr verteilte Dosis an Extrovertiertheit.
    Der Latzhosenmann schaute interessiert und schlenderte auf sie zu. Mehr ein Beobachter oder Forscher als ein Türöffner. Das Gespräch durfte erst beginnen, als er am Tor zum Stillstand gekommen war.
    »Guten Morgen«, wiederholte Melina zum dritten Mal.
    »Morgen. Ich bin nur sein Caller.«
    »Das weiß ich ja. Ich muss ihn dringend sprechen, bitte!«
    »Das geht nicht. Ganz und gar nicht. Diesmal nicht.« Er bedauerte nichts.
    »Sagen Sie ihm, dass ich es bin. Melina. Melina, verstehen Sie? Er weiß Bescheid, es geht um seine Tochter. Das darf doch nicht   … Es muss ihn doch interessieren, was mit Lena los ist.«
    »Weißt du, wo sie ist?«
    »Nein«, sagte Melina.
    Ehrlich und blöd bin ich.
    »Er will ausdrücklich nicht gestört werden.«
    Sie nahm Kredit bei ihrem späteren Dasein als Lateinlehrerin und hob streng den Finger: »Sagen Sie ihm, dass ich hier bin.«
    Das war nicht gerade ein Argument, aber es brachte den Mann zum Nachdenken. »Ich gehe hinein und sage Bescheid. Aber mehr nicht.«
    »Vielen Dank!«
    Eine Kolonne Drittklässler trottete vorbei, mit ihren Kappen und dem Montagmorgengesicht erinnerten sie Melina an die Arbeiter aus
Metropolis
. Nur dass hinten eine Entenmutter hinterherlief und einzelne Küken anquakte, sie sollten nicht träumen, sondern nach vorne gucken.
    Frau und Mann mit Landkarte und mexikanischem Habitus wollten von Melina wissen, wo die nächste Currywurstbude sei. Es war eben neun Uhr geworden. Und aus just dieser Richtung kam ein Betrunkener herangetorkelt, der ihr mit einer schwappenden Bierflasche die Welt erklären wollte.
    Der Latzmann ist verschollen, der hat sich verkrümelt in der Theaterburg.
    Doch eine andere Gestalt kam aus dem Seitenflügel, eine kleine Frau. Melina erinnerte sich – Pia. Sie hielt auf Melina zu und schien sich

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