Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
Vom Netzwerk:
zu freuen. Schon aus zehn Metern Entfernung warf sie ihr ein schweizerisch durchsetztes »GutenMorgen!« zu und zögerte nicht, das Tor zu öffnen und ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.
    »Haben Sie etwas von Lena gehört?«
    »Nein, Melina.«
    »Schläft Jenissej?«
    »Er ist Frühaufsteher. Aber er will nicht gestört werden. Hast du was Neues?«
    »Ich wollte wissen, was Lenas Videofilm ihm sagt.«
    Pia nahm beide Hände von Melina und führte sie an ihr Gesicht: »Kindchen   … Lass das doch unsere Sorge sein. Wir zerbrechen uns schon genug den Kopf. Jenissej, er sitzt immer wieder an dem Film und versucht, eine Spur darin zu finden. Ich würde es dir hier und jetzt sofort sagen, wenn er einen Geistesblitz hätte.«
    Offenbar machte Melina ein endlos enttäuschtes Gesicht, denn Pia bat sie auf der Stelle, ihr zu folgen. Sie brachte sie aber nicht zu Jenissej, sondern in den Wohntrakt und zu ihrem Atelier. Es war ein heller, ebenerdiger Raum mit einem Eckfenster, von dem man in den Dschungel zweier Kastanien blickte.
    Ungefragt goss Pia ihrem Gast Eistee ein und reichte ihr den Becher. »Du bist nicht für Lena verantwortlich.«
    Melina nahm den Becher und schaute wohl, als enthalte er Schierling. »Es fühlt sich aber so an.«
    »Ich zerbreche mir auch den Kopf, wo sie stecken könnte. Andererseits: Lena ist vierzehn. Sie ist selbständig, und sie entscheidet oft für sich allein.«
    »Heute ist Montag«, sagte Melina scharf. »In Deutschland gibt es immer noch Schulpflicht für eine Vierzehnjährige!«
    O nein   … Wo doch Pia aus der Schweiz kommt   …
    Sie versuchte, ihr ganzes Gesicht in dem kleinen Becher zu verstecken, und merkte, dass sie schlagartig rot gewordenwar. In ihren 23   Jahren hatte sie sich das nicht abtrainieren können.
    Pia schien ihr den Spruch nicht übel zu nehmen. Sie schaute nachdenklich aus dem Fenster. »Warte mal einen Moment, Melina, ich will etwas holen und dir zeigen.«
    Das Atelier hatte Ähnlichkeit mit einer Schneiderei. Es gab fahrbare Kleiderständer, in denen Flaggen hingen. Neben dem Fenster stand ein professioneller Bügeltisch mit Wassertank für das Dampfeisen und darüber eine echte Bügelschwebe, die verhinderte, dass man über das Kabel oder die Wasserleitung bügelte. Melinas heimlicher Traum. Aus der Kategorie der Träume, die man niemandem erzählt.
    Auf dem Bügeltisch war ein schwarzes Tuch mit einem magentafarbenen Buchstaben ausgebreitet – ein großes K, wenn Melina es richtig sah. Ein Buchstabe aus der Fraktur-Druckschrift. Aus seinem Grundstrich wuchs ein kleiner, feiner Bogen, der Melina an die Antennen der Tiefseefische erinnerte, die so eine kleine Laterne vor ihrem Maul hängen haben und mit ihr Beute anlocken.
    Das Große K verschluckt alle kleinen Ks. Hör auf zu spinnen! Im Lateinischen gibt es keine Ks. Na und? Was sind das für bescheuerte Gedanken?
    Pia brachte eine Reisetasche aus schwarzem Leder und stellte sie mitten in den Raum. »Hier. Hast du Lena mal mit so einer Tasche gesehen?«
    »Ich   … kann mich nicht erinnern. Wenn sie ins Institut kommt, hat sie, glaube ich, immer eine kleinere dabei. Ja genau, so eine giftgrüne. Fürchterlich neben ihren blauen Haarsträhnen!«
    Pia lachte. »Wir haben zwei von diesen Taschen. Kann sein, dass es unserem Chaos geschuldet ist, aber ich glaube, die zweite hat sie mitgenommen.«
    »Fehlt sonst etwas?«
    »Ich habe alles durchgesehen, aber bei den vielen Sachen in ihren Schränken verliere ich die Übersicht. Es könnte allerhöchstens sein   … « Sie holte ein Necessaire aus der Reisetasche und öffnete es. »Eine Nagelfeile und eine Schere fehlen. Das ist das Einzige, was ich finden kann. Womöglich ist es nur Zufall.«
    Melina sah, dass die kleine Frau den Kopf regelrecht hängen ließ. Sie mochte um die fünfzig sein, hatte einen Scheitel, der in der Stirn verwirbelte, und rote Haare. Die Nase war klein und hatte trotzdem etwas Hexenhaftes. Melina fand das Gesicht dennoch niedlich und spürte Mitleid mit Pia.
    »Jedenfalls   … «, seufzte Pia, »glaube ich, dass sie auf einer Reise ist. Ja, sie macht bei einer Reise mit. Und vielleicht, vielleicht ist ja alles gut.«
    »Dann würde sie kaum eine Videobotschaft dieser Art schicken«, sagte Melina.
    Herrje, schon wieder! Warum fahre ich die Frau dauernd an?
    Diesmal entschuldigte sie sich. Aber Pia nickte und sah sie eindringlich an. »Komm, setz dich. – Weißt du, ich glaube, sie ist unterwegs mit einer Gruppe von diesem

Weitere Kostenlose Bücher