Jung genug zu sterben
formte, traf ihn der Blick des Mannes direkt. Der Arzt nickte ihm kurz zu. Nicht freundlich, nicht unfreundlich.
Als sie an ihrem Rettungswagen angekommen waren, sagte Piet: »Sag mal, wie heißt dieser italienische Fußballschiedsrichter von damals?«
Gero lachte. »An den musste ich auch eben denken. Der Arzt mit der Glatze?!«
»Columbia? Columbo?«
»Nee – warte!
Colani
! Das ist es!
Colani
hieß der. Stimmt,sah fast genau so aus. Die fehlenden Haare. Der Blick. Diese Kopfform! Ist ja unheimlich.« Er lachte und schloss den Wagen auf. »Und was jetzt? Fußball? Hast du Lust? Ich hab Aserbaidschan gegen Holland aufgezeichnet.«
»Zwei zu zwei«, sagte Piet. »Außerdem will ich nur noch in die Falle.«
8
Lena war ein Säugling. Ihren Kopf hielt sie nur mit Mühe aufrecht. Allmählich gelang es ihr besser, aber gleichzeitig alterte sie. Schon saß sie, grinste in die Kamera, weinte, strahlte. Man musste nur eine Sekunde wegsehen – und verpasste zwei Wochen ihres Lebens. Die typische Lena war sie von Anfang an. Sie zeigte ihre Zähne, kicherte, hielt eine Zahnbürste hoch und verlor ihre Schneidezähne. Mit Zahnlücke sah sie spitzbübisch aus, gewitzt. Sie bekam Zöpfe, die Frisuren schlugen Kapriolen. Souverän spielte sie ihre Rollen – bis die Mundwinkel starrer wurden und das Kind aus ihr verschwand. Ernste Augen. Ende.
Jenissej ließ die Sequenz zum vierten Mal über alle vier Bildschirme laufen. Seit 1997 hatte er Lena vom ersten Lichtblick an täglich vor die Kamera gelegt bzw. gesetzt, sie möglichst jeden Tag in dieselbe Positur gebracht und sie fotografiert. Aus der Zusammensetzung der Fotos ergab sich ein Film, der sie bis zum zwölften Geburtstag zeigte. Aus anfänglichen Protesten war schiere Ablehnung geworden, Lena weigerte sich, weiter mitzumachen. Er konnte es gut verstehen, aber schade war es doch.
Habe ich lange nicht gesehen. Wie agil sie war, in dieser Zwischenzeit. So von acht bis elf. Die ganz große Schauspielerin. Hat uns alle um den Finger gewickelt. Und dann – paff! – mit einem Schlag ihr Kampf gegen alles und jeden. Vor allem gegen mich. Und gleichzeitig kam sie wieder angeschmust.
Er startete den Film ein fünftes Mal. Es gab zwei Varianten.In die zweite hatte er zwischen alle Fotos drei Morphing-Bilder gesetzt, computergenerierte Zwischenphasen. Außerdem hatte er jedes Bild so zentriert, dass Lena nicht mehr herumzuzappeln schien. Ihr Übergang vom Säugling zum Kind und zur jungen Jugendlichen dauerte länger und war sanfter. Aber inzwischen bevorzugte er wieder das zappelige Original. Denn er konnte es an jeder Stelle anhalten und sah in dieser Version immer ein authentisches Foto seiner Tochter.
Jedes Mal erinnerte er sich genau an den Tag und die Launen und Umstände, was vorher und nachher passiert war. Glaubte er jedenfalls.
Der Film war ein sechstes Mal gelaufen. Sein Finger schwebte über der Return-Taste, die die Endlosschleife starten konnte. Er drückte auf Stopp und lehnte sich im Drehsessel zurück.
Du solltest dir das
F3L
-Filmchen von Lena ansehen, anstatt in Erinnerungen an ihre Kindheit zu schwelgen. – Lena war all die Jahre ein richtiges Kind. Sie war quirlig. Neugierig. Ihre ganzen Ideen, ihre Entdeckungen, ihre Hand in meiner …
Von einem Tag zum anderen, so schien es jedenfalls im Rückblick, war sie nicht mehr die süße Lena, Papas Liebling, die strahlende Lena mit den Lachgrübchen. Sie war eine Kratzbürste. Und mehr als das. Sie war eine Staatsanwältin in eigener Sache, die über Jenissej zu Gericht saß. Was er alles falsch gemacht hatte. Und Jenissej war zu sehr in der Trauer um ihre Kindheit gefangen, als dass er sich vehement verteidigen wollte.
Der siebente Filmdurchlauf.
Man nennt das Pubertät, ist ja klar. Die Vorwürfe kommen gezielt und ganz persönlich. Als sei das eigene Kinddas einzige, das seine Eltern angreift. In Wirklichkeit, dachte Jenissej, gehört dieser plötzliche, beiden Seiten von außen aufgezwungene Abstand zur Entwicklung jedes Menschen.
Aber weshalb wirkte Lena auf diesem Film zuvor immer so fröhlich, obwohl doch viel früher alles zusammengebrochen war? Und erst mit zwölf kommt der Bruch, dann spielte sie nicht mehr mit.
Er hielt bei dem Baby, das mühsam in die Gegend schaute und die Kamera nicht von der Wand unterscheiden konnte. Alle Existenz floss in die Anstrengung, das Köpfchen aufzurichten. Das war seine Lena. Lena, kein Allerweltsname. Die Lena ist ein Fluss, der in einem kleinen
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