Jung genug zu sterben
Gebirge westlich des Baikalsees entspringt. Ust-Kut, Kierensk, Lensk, Oljokminsk … Sie wird breiter und wendet sich gen Norden, fließt durch Jakutsk und ist schließlich in Sibirien einer der mächtigsten Ströme des Planeten. Im weit ausfächernden Lenadelta ergießt er sich am Ende in die Laptewsee, einen Teil des Arktischen Ozeans.
Dieses Köpfchen über der Flauschdecke und ein viertausendvierhundert Kilometer langer Fluss. Immer wieder für Monate gefroren, aufbrechend, die Eisberge vor sich her schiebend, ganze Städte mit ihnen, den sich auftürmenden Eisschollen, verwüstend. Er liebte die Vorstellung von seinem kleinen, mächtigen Mädchen. Lena und Jenissej, der andere sibirische Strom.
Irgendwann war sie so weit, dass sie mit ihren kleinen Fingern dem Fluss auf der Karte im Atlas folgen konnte. Er musste ihr von all den Dörfern und Städten erzählen, die am Ufer lagen und in denen er nie gewesen war, aber von denen er doch alles wusste. Auch von den Seefahrern, die ihre Schätze darauf bis ins hohe Eis transportierten undangegriffen wurden von heulenden Wölfen und Reiterhorden. Jenissej hatte nie nur erzählt, er zeigte ihr, wie man Anker lichtet und wie man mit Ungeheuern kämpft. Er war selbst der Kämpfer und sprang im Zimmer umher. Hesther, ihre Mutter, lachte. Oder sie schaute fasziniert, genau so wie ihre Tochter, wenn Jenissej aus dem Eisnebel trat und zauberte.
Ab und zu hatte der kleine Finger ungeschickt lackierte Fingernägel, die Fahrten über Karte und Strom fanden seltener statt und wurden schließlich eingestellt.
Jenissej spulte ein paar Jahre vor. In die Nähe von Lenas viertem Geburtstag. Er verpasste ihn, denn da war ein Bild mit einer Art Dutt, und das war definitiv schon ihr sechster.
Warum sieht man es ihr nicht an, überlegte er. Auf den Fotos strahlt sie. Nichts vom Bühnendesaster ihrer Mutter. Nichts von Hesthers Fahrt in ihren eigenen Eisnebel. Der Hafen ein Haus, in dem man sie anfangs noch besuchen durfte, später nicht mehr, weil die Seelen von Mutter und Tochter Schaden nehmen konnten. Als ob sie nicht ohnehin verletzt waren! Nichts ist dem grinsenden Mädchen anzusehen von dem Kampf, als Jenissej mit ihr das Feld räumen und sie nach Italien mitnehmen wollte. Die Sechsjährige, die in der Tür des Schnittraumes steht, die Hände in die Seiten stemmt und mit krauser Stirn fordert, in Berlin zu bleiben.
Diese Kraft, die sie da hatte! Mit sechs! Genau zu wissen, was sie wollte. Der Vater Jenissej sollte in der Stadt ihrer Mutter bleiben, und sie auch, selbst wenn es diese Mutter hinter den Mauern der Anstalt eigentlich nicht mehr gab. Lena – der Strom, der Eisberge türmt und Städte niederwalzt.
Auch im weiteren Film gab es keinen Stimmungsbruch. Hesthers Tod wirkte auf ihn damals nur noch wie eine konsequente Folge ihres Abdriftens. Lena wollte unbedingt amGrab stehen und verbrachte mit der Erde in der Hand viel Zeit mit ihrer Mutter, die da unten in der Kiste lag. Sie ließ die Trauergemeinde warten und warten. Aber niemand wagte, sich während des intensiven Zwiegesprächs zu bewegen. Lena nahm Abschied, als Achtjährige, von ihrer Mutter und lächelte wieder auf den Tagesfotos.
Sie blieben tatsächlich in Berlin. Jenissej kaufte das Theater. Mit elf Jahren klopfte die Pubertät an die Kinderzimmertür, mit zwölf schlug sie in das Theater mit dem angeschlossenen Wohntrakt ein wie ein Blitz, der seine Energie über die Jahre gesammelt hatte.
Glücklicherweise gab es Pia. Die Blitzableiterin. Aus der Schweiz, wie praktisch: Nicht nur eine Künstlerin, die Jenissej eine Muse wurde, sondern auch eine Diplomatin in Sachen Lena versus Jenissej. Zu ihrem größten, zugleich aber auch traurigen Verhandlungserfolg zählte der Waffenstillstand von 2010 zu Berlin: Beide Parteien duldeten sich unter einem Dach. Lena hatte ihr eigenes Zimmer, sie bekam ihren eigenen Hauseingang mit einem eigenen Schlüssel. Beide Seiten flossen nebeneinanderher wie die Ströme in Sibirien, die sich nie berührten. Lena hatte ihr eigenes Handy und ihr eigenes Leben. Einzige Auflage: schriftliche Notizen, wo sie sich aufhielt. Die Liste durfte nur Pia einsehen. Die Neutrale.
Das war der Stand. Warum sollte sich Jenissej Sorgen machen, nur weil Lena zwei oder drei Tage nicht aufgetaucht war? Das kam öfter vor. Er kaute auf seiner Unterlippe. Vielleicht, weil sie als Letztes einen Termin im
Institut Zucker
eingetragen hatte. Wo sie laut dieser Melpomene nie erschienen war. Vielleicht,
Weitere Kostenlose Bücher