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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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studieren Sie nicht weiter Medizin, Melina?« Er flüsterte theatralisch. »Sie haben mehr Durchblick als manche von den Herren mit Bart! – Wir sprechen noch drüber, okay? Gute Reise!« Er zeigte auf das Ding in ihren Händen.
    Sie setzte den Kopfhörer auf.
    Klaviermusik. Der Schlitten glitt in die Röhre. Trotz aller Schalldämpfer spürte Melina ein auf- und abschwellendes Brummen – unsichtbar hatte sich die Apparatur in Bewegung gesetzt und umkreiste ihren Körper.
    »Die Reihe T39«, sagte Dr.   Fogh. »Die kennen Sie noch nicht. Ich spiele Ihnen Geräusche ein, die mehr oder weniger mit Sex zu tun haben. Tierisch und menschlich. Das dürfen Sie bei diesem Test ruhig wissen. Wir schauen, wie Ihr Bewusstsein mit dem Unterbewusstsein ringt. Sie brauchen nichts zu beantworten, es geht nur um die Physiologie. Alles klar, Melina?«
    »Ja.«
    Toll. Sex-Geräusche! Fehlte gerade noch.
    »Der Test läuft 75   Minuten. Sie haben in der Mitte zwei längere Entspannungsphasen, in denen Sie Musik hören. Falls Sie einschlafen, ist das kein Problem.«
    »Gut, verstanden.«
    »In der Zwischenzeit wird Dr.   Arthenhuis für mich übernehmen, Sie kennen sie, oder?«
    »Ja.«
    »Deshalb, ähm   … Darf ich Sie etwas Persönliches fragen? – Ich habe mich bislang nicht getraut, Sie zu fragen, Melina«, sagte er über die Lautsprecher des Kopfhörers. »Könnten Sie sich vorstellen, mich in nächster Zeit einmal zu begleiten? Ein schönes Restaurant am Abend, nach Ihrem Geschmack?«
    Melina öffnete die Augen und sah den ausgeschalteten Monitor über sich. »Gehört das schon zum Test?«
    Er lachte. »Nein. Ganz und gar nicht.«
    Sex-Geräusche, dachte sie.
    »Na?«
    Neuntausendneunhundertneunzig, dachte sie. 555 mal 18 ist 9990.   Das ist aber auch alles, was ich weiß.
    »Melina, leben Sie noch?«
    »Was soll ich sagen, Dr.   Fogh? Sie haben mich in eine Röhre eingesperrt, ich kann mich nicht bewegen.«
    »Darf ich das als Ja werten?«

14
    Die Uhr zeigte exakt 33   :   20.   Mit dem Nachspann machte das 35   :   00 – genau wie vorgegeben.
    Oskar Schroeter lehnte sich zum ersten Mal seit Stunden zurück und reckte die Arme, um sich zu strecken. Er hatte die Nacht hindurch gearbeitet, seit 22   Uhr. Zwei Flaschen Wasser und eine Thermoskanne Kaffee waren alles, was er brauchte.
    Jetzt stimmt das Gleichgewicht. Vorher, die langen Spielfilmausschnitte, das war zu viel am Anfang. Jetzt ist es besser verteilt, es hat Rhythmus. Auch die
Talking Heads
sind nun genau auf dem Punkt. Der optische Zoom auf Lingens Augen war die beste Idee überhaupt.
    Pia klopfte und öffnete wortlos die Fenster. »Und, Oskar, fließt es?«
    Schroeter zog das Zeigen dem Reden vor. Er startete den Film auf dem Schnittbildschirm.
    Pia las
Theophanes.
»Was? – Ich dachte, du bist an seinem
Ignoranz
-Projekt dran, Oskar.«
    Schroeter stoppte den Film. »Er hat mich hiermit beauftragt.«
    »Wann hat er das entschieden? Mir hat er gesagt, du sollst die ersten Testaufnahmen arrangieren.«
    »Gestern, 21   :   30   Uhr. Daraufhin habe ich mich an den
final cut
für das Ding gesetzt. Und bin fertig.«
    »Das Projekt ist mir neu. Warum buddelt er das alte Stück wieder aus?«
    »Es ist nicht das Stück.« Er ließ den Film anlaufen. »Es ist eine Doku über Lingen.«
    »Er wollte keine Dokus mehr machen.«
    Schroeter zuckte mit den Achseln und genoss sein Meisterwerk. Das
Timing,
der Rhythmus, jeder Schnitt saß.
    Pia ließ nicht locker. »Verstehe ich nicht. Mir hat er gesagt, er geht mit voller Energie an
Ignoranz
. – Ist das eine reine Doku über Lingen oder eine Doku über Jenissejs
Theophanes
?« Sie lachte. »Oder eine Doku über Theo Lingens
Theophanes?
– Mein Gott, da schaut ja keiner durch!«
    »Von allem was«, sagte Schroeter knapp und zeigte auf den Bildschirm. »Schau hin!«
    War eine Theaterszene. Zwei Schauspieler auf der Bühne, griechisches Ambiente, antike Toga. Plötzlich öffnet sich im Hintergrund ein Vorhang, und dahinter sitzt – ein weiteres Publikum. Die Menschen auf beiden Seiten der Bühne glauben, vor sich ein Publikum zu haben, das aus Schauspielern besteht. Und in der Mitte, zwischen ihnen auf der Bühne: die beiden einzigen wirklichen Schauspieler, die ihr Spiel unterbrechen und irritiert in die Ränge schauen.
    Jenissejs amüsiertes Gesicht. Interviewpose. »Ja, das war 2000.   Wir konfrontierten das eine Publikum mit dem anderen. Jeder dachte, nur seine Seite gehöre zum wirklichen, echten Publikum.«

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