Jung genug zu sterben

Abrissarbeiten gehen sehr wild vonstatten. Zum Beispiel haben Sie eine ganze Zeitlang kein Bad mehr   … Aber der Abbruch geschieht keinesfalls blindwütig, auch wenn es so aussehen mag. Die Hirnverbindungen, die besonders wichtig zu sein scheinen und oft genutzt werden, erhalten einen Ausbau. Hier muss ich ein anderes Bild bemühen: Aus der analogen Telefonleitung wird ein Datensuperhighway. Aber andere Telefonleitungen, die Sie lange nicht benutzt haben, die werden gekappt. Sie haben also keinen brüchigen Direktdraht mehr zu Onkel Fritz und Tante Erna, aber Sie können in Lichtgeschwindigkeit mit Tokio kommunizieren. Und von dort übrigens auch Tante Erna anrufen.«
    Das Hologramm zeigte nun eine dünne, schwarzgraue Leitung. Sie wurde von einer weißen Isolierschicht umhüllt. Einmal, zweimal, dann immer schneller und immer öfter.
    »Sie alle wissen, dass Neuronen, also die Nervenzellen, die Form langer Fäden haben. Falls so ein Nervenfaden als wichtig eingestuft ist, wird er isoliert mit weißer Schicht. Wie bei einem Kabel steigt die Leitfähigkeit, wenn es gut isoliert ist. Auf diese Weise webt die Natur ein neues Netzvon superschnellen Datenautobahnen. Gleichzeitig zerstört sie – wie gesagt – viele ungenutzte Kopfsteinpflasterstraßen. Das Gehirn wird durch diesen Umbau unglaublich leistungsfähig, denn nicht nur wenige Strecken werden mit dieser weißen Schicht aus einem Kristall namens Myelin isoliert. Nein,
alles
wird weiß! Das Gehirn nimmt eine weiße anstelle einer überwiegend grauen Farbe an.«
    Man sah dazu den Trickfilm.
    »Unser Gehirn wird ein Superrechner! Es wird erwachsen! – Das Dumme ist nur: Denken Sie an Ihr winziges, selbst gefliestes Bad. Bis Bob, der Baumeister, daraus einen riesigen Wellness-Bereich gebastelt hat, dauert es ein bisschen. Sie leben auf einer Baustelle. – Oder wenn Sie das Bild vom Straßenbau bevorzugen: Das ganze Gehirn ist ein enorm verzweigtes Straßennetz, aber überall stehen jetzt Bagger und Asphaltiermaschinen. Sie kommen nirgends mehr durch. – Diese Zeit, meine Damen und Herren, nennen wir die
Pubertät
.«
    Vollbart Kraniotakes gab sich leicht gelangweilt.
    Rachesch fuhr fort: »Wenn mein Sohn einige französische Vokabeln nicht mehr wusste, dann lag es daran, dass das Abrissunternehmen in seinem Schädel die entsprechenden grauen Zellen entfernt hat. Was konnte er dafür? Er war in dieser Zeit – wie wir alle – tatsächlich dümmer geworden. – Zum Glück ist er heute ein kluger junger Mann, aber der Übergang von der Neunten zur Zehnten war ein Chaos für ihn.«
    Die Hologramme verschwanden.
    »Festzuhalten ist also: In der Pubertät werden wir dümmer. Das hat biochemische Gründe, die sich belegen lassen. Das Gehirn selektiert Wichtiges von Unwichtigem. Was zum Überleben wichtig ist, wird modernisiert. Was hingegenunwichtig scheint – etwa die Binomische Formel – fällt erstmal raus. Das alles muss uns zu der Erkenntnis führen, dass für die meisten Kinder mindestens ein Schuljahr völlig vergeudet ist. Denn ihr Gehirn wird gerade komplett umgekrempelt, es gibt gar keine Ressourcen für die Pläne der Schule.«
    Kraniotakes hielt es kaum noch aus.
    »Einen Moment noch, lieber Kollege!«, sagte Rachesch. »Die meisten Bundesländer haben die Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12   Jahre verkürzt. Es wird niemanden hier überraschen, dass ich davon abgeraten habe. Denn es setzt die Schüler gerade während der Chaos-Phase des Gehirns noch mehr unter Druck. Es ist ja schon schlimm genug, dass sie und ihre Eltern nicht wissen, weshalb sie plötzlich schwächer werden. – Eine Kompromissformel könnte doch also lauten: Unterricht bis zur 13.   Klasse, okay. Konzentrierter als bisher, auch okay. Aber in der 9.   Klasse keine klassische Büffelei mehr! Keinen typischen Unterricht.«
    Unmut.
    »Warum quälen wir Kinder, obwohl wir von der Sinnlosigkeit wissen? Aus unserem eigenen Ehrgeiz heraus? Weil wir in dieser Phase damals auch gequält wurden? Also aus Rache?«
    Unmut.
    »Ein Letztes, dann stehe ich zur Zerfleischung zur Verfügung   … «
    Noch einmal war die Animation des Gehirns zu sehen, das von Grau nach Weiß wechselte.
    »Ist Ihnen aufgefallen, dass der Umbau des Gehirns nicht gleichzeitig in allen Arealen stattfindet? Sehen Sie, zunächst wird es weiß in den unteren, älteren Hirnarealen, hier, hier und hier. Halten wir mal an. – Das sind die Bereiche, die ausmeinem Sohn plötzlich einen Spitzenfußballer und einen