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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Romantiker gemacht haben. Ein Junge, mit dem man Pferde stehlen konnte. Er wurde also stärker, leidenschaftlicher und mutiger. – Weiter! – Und jetzt, erst zum Schluss, wird auch der vordere Bereich des Gehirns, der präfrontale Kortex, mit weißen Isolierschichten rundum erneuert. Das Drama besteht darin, dass genau dort vorn, hinter der Stirn, das Zentrum unseres Verstandes angesiedelt ist. Und genau das ist das letzte Zimmer, das renoviert wird!«
    Viele lachten.
    »Wann ist dieser Umbau abgeschlossen? Nun, das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Im Durchschnitt erst mit dem 21.   Lebensjahr. Bis dahin, meine Damen und Herren, dauert in diesem Sinne die Pubertät. Bis dahin müssen wir bei einem Menschen damit rechnen, dass alle seine Hirnleistungen besser ausgebildet sind als sein Verstand. – In der neunten Klasse etwa ist die Verstandesleistung am deutlichsten heruntergedimmt   … Deshalb plädiere ich in dieser Zeit für eine Schule, die Sport in den Vordergrund stellt, Musik und Kunst, aber beides nur praktisch. Die Jugendlichen müssen in dieser Zeit Abenteuer erleben. Sie wollen sich beweisen. Und Sie wollen echte Verantwortung übernehmen. Nicht nur den Mülleimer herunter tragen, das eher gar nicht, sondern: die Welt retten.«
    Raunen.
    »Über die Details sollen andere sich den Kopf zerbrechen, die Pädagoginnen und Pädagogen, die alle über ausgesprochen viel weiße Hirnsubstanz verfügen. Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie uns unsere Kinder retten, weil sie die Welt retten wollen! – Vielen Dank!«

18
    Einmal mussten sie sogar beide lachen: Jenissej hatte die kurze Aufnahme von Lenas Gesicht mehrfach hintereinander geschnitten. Die schnell wiederholte Bewegung ihres Kopfes wirkte nun, als schüttele sie ihn im schnellen, harten Takt.
    Wie bei ihrer komischen Pagan-Musik.
    Melina musste immer noch in sich hineinkichern.
    Plötzlich tauchte Jenissejs Kopf vor ihrem Gesicht auf, und mit der besorgten Miene eines Chefarztes auf Stippvisite fragte er: »Alles wieder in Ordnung?«
    Sie lachte schallend. Hielt sich die Hand vor den Mund. »Entschuldigung!«
    »Wer sich fürs Lachen entschuldigt, gehört gefoltert«, sagte er streng und stellte Lena auf Zeitlupe.
    Melina räusperte sich und sagte leise: »Durch das ständige Ansehen bekommen wir auch nichts über sie raus.«
    »Bitte?«, fragte er.
    »Ich habe nichts gesagt.«
    »Du schaust so skeptisch.«
    »Na ja, diese Variationen des Videos sind wirklich interessant. Aber wir sind kein Stück weiter gekommen.«
    »Abwarten. Die Einzelstücke sagen gar nichts: Lena, ihre Hand, die Kreise im Sand   … Aber zusammen genommen müssen sie etwas haben.«
    »Ich bin dafür, wir wenden uns an die Polizei.«
    »Och je!« Er sah sich zu ihr um. »Damit so ein Sheriff das Filmchen entschlüsselt?«
    »Nein. Damit sie eine Suchanzeige aufgeben können.«
    »Eine Fahndung machen die nicht. Sie hat ja nichts verbrochen. Jedenfalls hoffe ich das. Die heften das ab, fertig. Oder stellst du dir vor, dass sie mit Hundertschaften Wald und Flur durchstochern, o treuherzige Melpomene?«
    »Vom Videogucken wird’s auch nicht besser!«
    Seine Lachfalten – wie ein Sonnenaufgang. »Hübsch gesagt. Ich weiß, dass wir etwas finden. Lena sendet nicht eine Datei an mich und auch noch eine Kopie an dich, bloß um Dadaismus zu fabrizieren. Da steckt was drin. Ich sehe es nur noch nicht, weil –«
    »Weil?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht bin ich zu nah dran. Muss Abstand nehmen, um das Ganze zu sehen.« Wie schon die ganze Zeit, seit Melina neben ihm im Keller seines Theaters saß, huschten seine Finger über das Trackpad und schnitten weitere Kopien des Filmchens.
    Sie betrachtete seine Hände, wie sie mit der Geschwindigkeit einer Sekretärin beim Tippwettbewerb arbeiteten und zwischendurch ruhten, damit sich Jenissej auf das Ergebnis konzentrieren konnte.
    Diesmal waren es Sekundenschnitte, alles war wild durcheinander.
    »Fehlt nur noch die Musik, dann haben Sie ein Musikvideo.«
    Er nickte. »Gut erkannt, Melpomene. Ich habe einen Rhythmus eingegeben, der Rest ist Zufall.« Er stieß sich mit dem Drehstuhl ein Stück vom Schnittpult ab und ließ die Augen über das Bildschirm-Triptychon blitzen.
    Dann rollte er zurück, drückte mehrere Tasten und nahm wieder Abstand. Jetzt waren auf allen drei Schirmen sowie auf dem darüber hängenden vierten die schnell zappelndenBilder zu sehen. Im selben Rhythmus, aber zeitversetzt. Ein hektisches Gewusel ohne

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