Jung genug zu sterben
spürte, wie sie kochte. »Ich wollte das alles übertragen. An Lena!«
Mit einer schnellen Bewegung stand Jenissej hinter ihr und hielt sie an beiden Schultern vor sich. Fest, aber nicht zu nah an sich herangezogen.
Sie konnte fühlen, wie die Pulsfrequenz abbremste.
Melina wollte etwas sagen. Tat es aber nicht.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich bin manchmal zu direkt. Aber ich meine, was ich sage.«
»Vielleicht ist es falsch, aber ich muss es durchziehen. Irgendetwas muss ich ja mal zu Ende bringen.«
Seine Augenbrauen gingen maximal nach oben. »Aha, den falschen Weg bis zum Ende gehen. Verstehe.«
»Und ich muss das möglichst schnell machen, weil ich mit dem Zweitfach in Verzug bin.«
»Welches Zweitfach studierst du denn?«
Sie stöhnte. »Weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich Geschichte.«
Seine Augenbrauen blieben, wo sie waren.
Lena zappelte über alle Bildschirme, während Jenissej Melina an den Schultern hielt.
»Mach einen scharfen Schnitt«, sagte er.
»Das habe ich schon mit dem Medizinstudium gemacht.« Irgendwann musste sie ihr Vater auch einmal so gehalten haben. Aber wann sollte das gewesen sein? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.
19
Fogh war so spät dran, dass er nicht einmal die Gegenrede von Professor Aristoteles Kraniotakes miterlebte. Er fand nur einen Platz in der dritten Reihe außen und sah sich nach bekannten Gesichtern um.
Kraniotakes hatte anders als sein Kollege Rachesch kein Hologramm eingeschaltet und auch sonst auf alles Visuelle verzichtet. Er vertraute ganz dem Wort. Den Anfang machten seine Gesten der Zustimmung: Rachesch habe korrekt dargestellt, wie in der Jugend das Gehirn umgebaut werde. Es sei auch zutreffend, dass das Lernen in dieser Zeit sehr schwer sei. Dann kam sein großes Aber: Eben weil in dieser Phase im Hirn neue leistungsstarke Vernetzungen aufgebaut werden, dürfe man die Jugendlichen nicht aus der Schule nehmen und dürfe nicht auf die Fächer verzichten, die Rachesch so gescholten habe. Sondern man müsse auf Disziplin drängen, damit die Pubertierenden das Rechnen, die Logik, die Sprachen und so weiter in sich als neue Kompetenzen aufnehmen. Man wisse, dass die wichtigen Nervenleitungen je nach Gebrauch ausgebaut werden. Verzichte man in dieser Zeit auf konzentriertes Lernen, so stürben diese Leitungen ab – das Gehirn verlerne das schulische Lernen.
Im Nachgang hatte sich Rachesch zu einigen »Verständnisfragen« gemeldet. In der Diskussion teilte sich das Publikum in zwei Lager, die bereit waren, je den einen mit Applaus zu bedenken und den anderen mit Murren abzulehnen.
Da alle im Saal sich auf eine der Seiten schlugen, hatte der sich zaghaft meldende Dritte wenig Chancen, auf Anhieb Freunde zu finden. Das war der Moment, in dem Fogh in den Saal gekommen war, sich setzte und sich umschaute.
Der ältere Herr mit den fadenscheinigen, notdürftig zu einem Scheitel geformten grauen Haaren saß ganz links und hatte bislang entweder gelächelt oder ängstlich dreingeschaut, aber durchweg geschwiegen. Jetzt kämpfte er mit dem Knopf für die Mikrofonanlage und dann mit einem Kloß im Hals. Leise und freundlich sagte er: »Die feurigen Kollegen in allen Ehren – lassen Sie mich auf einen ganz anderen Punkt eingehen, der dennoch ungemein entscheidend ist: das Dopamin.« Er sah sich um, aber nichts passierte.
Fogh trommelte mit den Fingerspitzen auf den Holztisch.
Jemand wandte sich an Elke Bahr, die daraufhin von ihrem Platz hochschoss und beinahe ihr tragbares Mikrofon fallen gelassen hätte. »Wenn ich kurz … Danke. Meine Damen und Herren, im Eifer des Gefechts hatte ich vergessen, Ihnen den Herrn ganz links vorzustellen: Professor Doktor Richard Zucker, der Leiter unseres Instituts.«
Applaus, pflichtbewusst, kurz angebunden.
»Professor Zucker hat dieses Institut im Jahr 1984 in St. Gallen gegründet.«
»
Bei
St. Gallen«, rief er ohne Mikro dazwischen, freute sich über seine Bemerkung und erwartete offenbar, dass jeder akademisch gebildete Mensch ob dieses Einwurfes in wissendes Lachen verfiel.
Nichts.
»Er erwarb sich binnen kürzester Zeit den Spitznamen
Blade Runner
. Jeder, der diesen Film von Richard Scott kennt … «– niemand schien den Namensfehler zu registrieren–» … wird sich wundern. Es soll ein Ehrenname sein, denn Prof. Zucker wirkte maßgeblich an den ersten implantierten Hirnschrittmachern mit, wie ich es als Laie einmal nennen darf. 1994 erkannte er die Zeichen
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