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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Unfalls?«
    »Weiß ich nicht. Ehrlich.«
    »Und danach?«
    »Als wir wieder zurück in der Unterkunft waren, war Lena nicht mehr da.«
    »Sie tauchte nicht mehr auf.
    »Nein. Ähm, ja. Also, ja, sie tauchte nicht mehr auf, sozusagen.«
    »Warum hast du vorhin gesagt, Lena war nicht dabei?«
    »Kann ich nicht sagen.«
    »Wieso nicht?«
    Er schüttelte den Kopf. Offenbar gab es einen inneren Konflikt.
    »Du verweigerst also die Antwort   … «
    »Nein!«
    »Erst war Lena nicht dabei, jetzt war sie dabei. Welches davon war eine Lüge?«
    »Nicht Lüge, Mann!« Ihm liefen keine Tränen, aber das Gesicht wirkte schon so.
    »Ich finde, dass du mir keinen Respekt entgegenbringst. Vielleicht sollte ich mal einen Brief an deine Familie schicken.«
    Er schrak auf. »Meine Familie? Wieso?«
    »Oder ist es besser, ich rede mit deinem Bruder? Ist er für deine Erziehung verantwortlich?«
    »Frau Doktor, ich schwöre   … Lena   … Doktor Fogh hat gesagt, dass wir nichts über sie sagen sollen. Wenn wir gefragt werden, sollen wir sagen, dass sie nicht mitgereist ist.«
    »Doktor Fogh?«
    Der Junge saß mit vornübergebeugtem Oberkörper da und starrte auf den Fußboden.
    Melina wechselte in eine verständnisvolle Tonlage. »Gut, Bülent. Ich glaube dir. Ich verstehe, du hattest ihm dein Wort gegeben. Ich werde es für mich behalten, keine Sorge. Bitte sage mir noch eines: Hatte mein Kollege Dr.   Fogh dir gesagt,
warum
es besser ist, Lenas Teilnahme zu verschweigen? Kannst du dich erinnern? Es wäre sehr hilfreich für mich.«
    »Es ging um die Medikamente. Lena hatte Jan irgendwie die Tabletten nicht gegeben, die er brauchte. Wegen seiner Zappelei. Er sagte: Lena bekommt große Schwierigkeiten. Mit dem Institut, vielleicht mit der Polizei, wenn das rauskommt. Und mit den Eltern, damit die nicht wütend werden und noch trauriger.«
    »Das alles hat Dr.   Fogh gesagt?«
    »Ja.«
    »Nur dir? Oder allen in der Gruppe?«
    »Weiß nicht.« Schnell schob er nach: »Ich glaube, er hat es allen gesagt. Hätte ja sonst keinen Sinn.«
    Melina lächelte. »Ja, sonst hätte es keinen Sinn.« Sie reichte ihm die Hand. Die war schwach und schwitzig. »Danke, Bülent. Du warst sehr gut am Schluss. Zerbrich dir nicht den Kopf, ich regle das alles. Mit Dr.   Fogh und so. Alles ist in Ordnung.«
    Sie wartete, bis der Junge leise das Büro verlassen hatte, dann wählte sie die Nummer von Fogh. Nach etlichen Klingelzeichen ging der Anrufbeantworter an. Melina legte auf.

25
    Dieser kleine Baum ohne Laub und ohne Nadeln muss doch
umzuknicken sein. Ich kann ihn mit meinen Händen umfassen
und an ihm rütteln. Ihn nach hinten biegen und zu mir
nach vorn ziehen, nach links und rechts. Langsam hebt sich
auch sein Wurzelwerk, es bricht durch das Eis, von dem er
eingeschlossen ist.
    Das ist nicht einfach Schnee, der den Baumstamm umgibt,
er ist richtig eingefroren. Das Eis splittert weg, wenn ich das
Bäumchen bewege. Aber es ist noch nicht genug weggesplittert.
    Andere Bäume gibt es nicht, auch keine Sträucher, höchstens
ragt gelbes Gras aus dem Weiß heraus.
    Ich versuche es noch einmal mit diesem Bäumchen. Abzubrechen
ist es nicht. Ich muss es doch wenigstens entwurzeln
können. So lange kann das nicht mehr dauern. Noch etwas
kräftiger zerren, dann bricht schon ein Stück Wurzel.
    Ach ja, die Eltern, die stehen und warten, bis eben. Aber
jetzt wollen sie weitergehen.
    Es dauert nur noch einen Moment! Ich habe doch dieses
kleine, tote Bäumchen gleich umgelegt!
    Sie gehen einfach weiter. Warum warten sie nicht, wenn
mir etwas wichtig ist?
    Das Bäumchen steht schon schräg. Es verzweigt sich nur
oben ein wenig, ansonsten hat es keine Äste. Es ist zwei-, nein,
dreimal so hoch wie ich, aber viel dünner. Noch einmal mit
dem ganzen Körper!
Die Eltern sind schon so weit weg. Ich kann das hier aber
nicht so lassen, ein halb entwurzelter Baum, das Eis nur zur
Hälfte gebrochen, die Wurzeln teils in der Luft und teils noch
in der Erde. Und sie gehen einfach, sie lassen mich allein!
Jedenfalls werden sie nicht so weit laufen, dass ich sie nicht
mehr sehen kann.
    Noch einmal – hin, her – hin, her. Ah, er gibt nach. Nein, er
ist zäh. Ein zäher, blöder, junger, toter Baum.
    Was mache ich eigentlich mit ihm, wenn er umgefallen ist?
Ich will sehen, wie das geht. Einfach das hier schaffen, ihn entwurzelt
sehen. Ist doch sowieso eingeeist und tot. Ja, stimmt,
seine Rinde ist weiter oben vereist.
    Ich schaue mich um. Vom Baum aus. Keine

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