Jung genug zu sterben
Karten.
53 Minuten später schüttelte Melchmer einem Mann mit Haarzopf und Latzhose die Hand – Jenissejs Caller. »Ich dachte, ich tue Ihrem Chef etwas Gutes, indem ich ihm seine verlorene Tochter besorge. Aber wenn Sie sagen, er hat zu tun, dann komme ich nächstes Jahr wieder, kein Problem.«
»Ich habe nicht gesagt, dass er Sie nicht sehen will, sondern dass es zeitlich ungünstig ist. Wenn es um Lena geht und um die Polizei, ist er zu sprechen.«
»Moment, Moment! Vielleicht sind Sie ja auch nicht ganz dumm.«
»Danke für die Schmeichelei. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ähm … Was genau ist das für ein Theater, das Ihr Chef hier veranstaltet?«
»Sehen Sie es sich an. Sehr vielseitig!«
»Kann sein. Aber leider bin ich noch nicht pensioniert, um so viel Zeit zu haben. Und meine Abende sind alle belegt mit Fernsehen und Kreuzworträtsel. – Ihr Jenissej, istdas so einer, der Kühe auf der Bühne zersägt, damit das Blut nur so spritzt? Schauspieler, die in den Orchestergraben urinieren? Rammeleien mit Aktenkoffer in der Hand?«
»Wenn es das alles noch nicht gegeben hätte, könnte es für ihn interessant sein. Aber so … Wissen Sie ein bisschen was vom Theater, Herr Inspektor?«
»Comme ci, comme ça, mein Lieber. Den Faust würd ich noch jederzeit ertragen, fürwahr, des Kudamms Boulevard’sche Säle kannt ich besser.«
»Aha. Aber es ist wohl weniger von Belang, was hier am Theater abgeht, wenn es sich um die Suche nach Lena dreht?«
»Da irren Sie, getreuer Vasall! Wenn dieses Lena-Kindchen über alle sieben Berge ist, dann gibt es einen Grund dafür. Oft werde ich bei den Eltern fündig. Und das hier scheint mir eine Fundgrube.«
Der Latzmann nickte. Er kramte im Spind und zog eine Broschüre hervor. »Hier, nicht ganz heutig, aber solide. Das ist das Heft zu seinem letzten Stück,
Suff
. Aber da ist eine Kurzbiografie drin und ein Abriss seiner wichtigsten Arbeiten. Vielleicht hilft Ihnen das.«
»
Suff?
Der Mann wird mir sympathisch. Arbeitet er autobiografisch?«
Der Caller deutete auf die Broschüre: »Lesen! Ich erklären weißer Mann.«
»Na, mit Ihnen möchte ich aber auch nicht das Kriegsbeil rauchen müssen! – Also, was haben wir denn da Schönes? Das ist die Werksliste?«
»Ja, das Wichtigste.«
»Oh, verstehe, er hat eigentlich noch viel mehr Talente! Also:
Verrat (1990), Turmfalke (1991)
… – Kommt Ihr Chef aus dem Osten?«
Der Caller wirkte wie vom Donner gerührt. »Nein. Seine Mutter hat die DDR verlassen, als sie hochschwanger war.«
»So. –
Die Alpträume des Herrn Idi Amin (1992, Gastspiele
vor allem in New York). Odysseus und die Spin-Offs
(1993, Gastspiele auch in Moskau) –
Äh, was für Spin-Offs? Odysseus als Fernsehserie?«
Sein Gegenüber verdrehte die Augen. »Sie müssen es
sehen
! Jenissej ist kein Theaterregisseur, er ist Medienchoreograph!«
»Moment! Ein Beamtenhirn muss man Schritt für Schritt füttern, nicht alles auf einmal! Also, was für Spin-offs?«
»Homer stellte fest, dass sein
Trojanischer Krieg
ein Bestseller wurde. Sein Verleger konnte ihn überzeugen, eine Fortsetzung zu schreiben. Blöderweise war der Krieg um Troja aber schon gewonnen. Also griff er eine Hauptfigur aus dem ersten Roman auf und entwickelte mit ihr eine neue Geschichte. Er schickte den Mann auf eine Reise, die länger dauerte als erwartet, weil seine Leute Wind in den Beuteln gesammelt hatten und … «
»Halt, mein ehrenwerter bezopfter Freund!
Die Odyssee
ist’s, der Polizist begreift’s. – Und Ihr Jenissej hat wahrscheinlich weitere Handlungen dazu erfunden?«
Der Caller nickte huldvoll.
Melchmer las weiter.
»Die Philosophin (1994, London). By
Appointment of Her Majesty the Queen (1995, London). Georg
Friedrich (1996, London).
– Gehe ich recht in der Annahme, dass der Meister in diesen Jahren in Großbritannien weilte? Nein, sagen Sie nichts! Und
Georg Friedrich
? Das ist
der? Messias
und so?«
»Richtig. Händel war ein Barockkünstler … «
»Was Sie nicht sagen! – Kennen Sie Georg Thomalla?«
Der Caller atmete schwer und wusste nicht, wie er sichverhalten sollte. Aber bevor Melchmer reden konnte, sagte er: »Das Barock ist für Jenissej zentral. Natürlich macht er keine Musik wie Händel, aber er schätzt die Idee vom Gesamtkunstwerk, und Händel war ein großartiger Intendant. Er hatte ein Händchen für die großen Diven seiner Zeit.«
»Horri … Horribus … Nein,
Horribilicribrifax
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