Jung genug zu sterben
(1996,
London).
Was ist das?«
»Immer noch die Barockphase,
Horribilicribrifax
ist ein Stück von Andreas Gryphius. 1663, glaube ich. Anders als viele düstere Sachen von Gryphius ist das eine Komödie. Es geht um verschiedene Sprachen und Menschen, die sich nicht verstehen.«
Melchmer winkte ab. »
Treachery (1997, London) … «
» … eine Neuaufführung von
Verrat … «
»Hunger (1999), Theophanes (2000), Der 12. September
(2002), Publikums Geschmack (2003), Essenstechnik, Essenztechnik
(2005), Différence – das A (2006).
« Er sah auf. »Das A!«
»Ja, das sind die ersten ausschließlichen Medienchoreografien.«
» … Eine Million Kameras (2007), Pünktchen und Kommalein
(2007), Kriegskauf (2007), Tochter der Taliban
(2008), Hesther (2009), Suff (2010).
– Also gut, was ist Medienchoreographie?«
»Choreographiert wird in solchen Arbeiten nicht nur der Tanz. Jedes Medium kann inszeniert werden: die Theaterbühne, der Film, projizierte Bilder, das Internet. Wir experimentieren gern mit Interfaces, also Schnittstellen. Wir mischen.»
»Zu hoch für mich.«
»Gut, lassen Sie es mich an einem Beispiel sagen: Was für Stücke sehen Sie gern?«
»Bundesliga.«
»Okay. Nehmen wir ein anderes Beispiel … «
»Woran arbeitet er jetzt gerade?«
»
Theophanes.
Er greift sein altes Thema auf und macht einen Dokumentarfilm über Theo Lingen.«
»Theo Lingen? – Hans Moser, Heinz Rühmann und Theo Lingen. – Dieser Theo Lingen?«
»Ja.«
»Verstehe«, näselte Melchmer. »Aber warum?«
»Lingen hat ihn als Stückeschreiber und als Regisseur inspiriert, vor allem aber, weil er so etwas wie ein Doppelleben hatte: Nach außen hat er exaltiert gespielt, war aber eher verschlossen, wenn es um ihn und seine Familie ging. Er wollte sie schützen. Privat hingegen war er ein leidenschaftlicher Schmalfilmer. Jenissej hat dieses Material gesichtet. Er darf es nicht verwenden, aber er hat es verarbeitet, und so war das Stück
Theophanes
vorwiegend von fiktiven privaten Filmszenen getragen.«
»Und wie lebt es sich mit so einem Genie?«
»Och, ich finde es immer wieder berauschend, mit Jenissej neue Dinge zu probieren.«
»Ich meinte Lena. Wie erträgt sie so einen Vater?«
Lothar Melchmer ließ sich vom Caller in groben Zügen über die Familienverhältnisse unterrichten. Lenas schizophrene Mutter, die Zeit der Trennung, die Mutter in der Klinik, dann der Suizid. Pia als eine Art Ersatzmutter, aber nur distanziert, weil Lena Teile ihres Lebens komplett abschottete.
»Noch mal zur Mutter! Hesther Jones, sagten Sie? Londoner Opernsängerin? – Lena hängt an ihrer Mutter wie alle Mädchen. Sie will sie nicht verlieren. Die Mutter ist ineiner Irrenanstalt – wie soll das Kind das verkraften? Sie ist acht, als die Mutter stirbt. Der Vater wird nicht damit fertig … «
Der Caller sah den Kommissar fragend an.
»Vier Jahre später macht er ein Stück mit dem Namen
Hesther
. Ich bitte Sie! – Ich nehme an, Lena ist eine ziemlich selbständige junge Dame, die sich in nichts reinreden lässt und ihrer eigenen Wege geht. Sie unternimmt sogar Reisen in die Schweiz, ohne ihn zu fragen. Ihr Vater ist irgendwie da, aber es gibt eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen? Wenn sie sich irgendjemandem anvertraut hat, dann eher Ihnen als ihrem Vater?«
»Mir weniger, Herr Inspektor. Gut, stimmt schon, das eine oder andere hat sie mir gesagt. Aber dann schon eher Pia Rorschach. Manchmal laufen sie Arm in Arm.«
»Was genau hat Sie
Ihnen
erzählt?«
Eine halbe Stunde später saß Hauptkommissar Melchmer in der ersten Reihe vor der Bühne und sah den Bühnenarbeitern zu. Sie waren dabei, einen überdimensionalen Salzstreuer hochzuhieven, der über allem schweben sollte. Er sollte funkeln, aber jedes Mal, wenn er damit begann, fielen die Sicherungen raus.
Dazwischen verhakelten sich fünf Frauen, die altrosafarbene Ballettröckchen trugen. Weit im Bühnenhintergrund schienen Hunderte von Menschen von links nach rechts zu gehen. Es waren ihre Schatten, und es dauerte eine Weile, bis Melchmer begriff, dass sie nicht von der Straße hierher gespiegelt wurden, sondern dass Projektoren sie als künstliche Bilder erzeugten.
Ein Mann mit schwarzem Jackett setzte sich neben ihn. »Sie sind von der Polizei?«
»Meine Frau glaubt’s auch nicht. Melchmer, Kripo Berlin.«
»Sie wollen mich sprechen.«
»Ja? Sind Sie hier der Geschäftsführer?«
Er lächelte. »So ähnlich. Ich bin Jenissej.«
»In
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