Jung genug zu sterben
anderen
Bäume, kein Wald, keine Häuser, eine weiße Landschaft.
Die Eltern kann ich nicht mehr sehen. Aber so weit können
sie unmöglich sein. Wenn ich ihnen gleich nachlaufe, habe ich
sie im Nu eingeholt.
Dieses bisschen noch. Ein Stück.
Der Baum steht schräg. Seine Wurzeln ragen schwarz aus
dem Eis. Ich schaffe das nicht. Ich kann ihn allein und in der
kurzen Zeit nicht umlegen.
Und die Eltern, sie sind nicht mehr zu sehen. In welche
Richtung muss ich laufen? Wo sind wir hergekommen? Wie
haben sie mich hergeführt? Warum warten sie nicht, zeigen
sich?
Sie sind weg.
26
Die Leute sind
verrückt
nach Morden.
Wenn zum Beispiel die Isländer da auf ihrem Vulkan so viele echte Ermordete hätten, wie sie Krimis auf der Insel haben, na dann gute Nacht! Oder die Schweden, wo Gevatter Tod angeblich in jeder Kleinstadt volle Auftragsbücher hat – wenn’s nach den Autoren ginge. Träfe das zu, würde kein Schwede mehr Bäume fällen oder Möbel bauen. Sie wären alle bei der Polizei.
Jetzt lässt man schon
Schafe
Mörder und Gendarm spielen, in den Büchern.
Und die
Realität,
liebe Leute: Wenn man mal meinen Job verfilmen würde – die Zuschauer würden denken, es wäre die Webcam von einer Wanderdüne.
Ich hätt gern mal wieder was Kniffliges, einen echten Mord. Geplant, nicht so’n Affekt-Wischiwaschi. Aber ich kann ja schlecht inserieren:
Vor Langeweile verwelkender
Hauptkommissar sucht zwecks Ausleben seiner kriminalistischen
Triebe ausgewachsenen Mord. Spätere Serienmorde
nicht ausgeschlossen.
Stattdessen kommen irgendwelche Freundinnen und beklagen sich, dass eine ihrer Handy-Partnerinnen seit zwei Tagen keine SMS mehr geschickt hat. Nachher stellt sich raus, die Freundin hat bloß den Telefonanbieter gewechselt. Vermisste – diese Zuständigkeit ist bei der Polizei komplett falsch angesiedelt. Vielleicht sollte man die Sparte privatisieren. Outsourcen. Es kann doch keine hoheitliche Aufgabe des Staates sein, entlaufene Ehepartner und Hunde zu suchen!
Weil auch Selbstmitleid irgendwann langweilig wird, tippte Lothar Melchmer auf die Tastatur. Das Baby-Bild verschwand. Anstelle seines neugeborenen Enkels, der in Wirklichkeit inzwischen zur Schule ging (doch in dieser Funktion war er nicht als Bildschirmschoner verfügbar), sah er nun wieder das Bild von Lena Jenisch.
Eine Vierzehnjährige. Auf dem Foto hatte sie schwarze Haare mit blonden Strähnen.
Momentan hat sie die Haare angeblich blau gefärbt.
Karneval in Berlin! Soll ich die Haare auf dem Foto blau streichen, das Bild kopieren und als Fahndung an jeden Saloon in der Stadt nageln? Kommt diese Medusa oder Melina
von und zu
hier reingeschwebt und will eine Anzeige aufgeben! Kleinanzeige? Der Vater könne nicht kommen, er sei
verhindert
! Künstler! Als ob das eine Erklärung dafür ist, dass man sich nicht kümmert. Der Staat füttert die Künstler durch, und dann soll er auch noch ihre Kinder suchen. – Na gut, genug gemotzt. Woll’n wir mal wieder!
Er gab die restlichen Daten in das Bildschirmformular ein. Er mochte es nicht, während einer Aussage oder einer Anzeigenannahme auf etwas einzutippen, daher musste er jedes Mal den einen Teil von seinen Notizen übertragen, was nicht allzu leicht war angesichts seiner Schrift, die sich von selbst zu kryptografieren schien. Den anderen Teil merkte er sich. Jedenfalls hoffte er das. Dieser Teil war noch beschwerlicher.
Von Lena gab es nur einen Schülerausweis. Hauptkommissar Melchmer prüfte, wie es mit den Daten von Melina von Lüttich und Lenas Vater stand.
Der Vater hieß Hans-Joachim Jenisch-Issenschmid, 49.
Bei dem Namen würde ich mir auch einen Künstlertitel zulegen. Wie war der gleich: Jenni-sej?
Aber es stand sogar in den Einwohnermeldedaten.
Großer Strom in Sibirien mit acht Buchstaben. Der
Ob
kann’s ja nicht sein! – Aber Jenissej, Jenissej … Sie hat gesagt, Lena wohnt bei ihm im Theater. Irgendwie klickt’s da bei mir. Mal sehen, was das Internet sagt. Ich nehme an, der macht so modernes Theater. Mann setzt sich in einen Kaktus. Einpersonenstück, fünf Stunden. Topp, die Wette gilt … Ha! Lothar hat das Näschen, Leute! – Melanie würde mir ja um den Hals fallen, wenn ich sie ins Theater ausführe. Die liebt solchen Quatsch. Die Frau von Welt. Aber will ich mir das antun? Andererseits: Irgendwann ist Hochzeitstag. In drei Jahren oder so. Wär ’ne Gelegenheit für ein Geschenk. Vorausgesetzt, dieser sibirische Fluss ist zugänglich und verkauft mir zwei
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