Jung genug zu sterben
aufwies. Es sah für mich so aus wie das Gehirngewebe eines Erwachsenen. Wenig Graumasse, viel weiße Substanz. Alternative Aufnahmen meiner Assistenten lassen außerdem erkennen, dass das Organ großflächig nicht mehr funktionierte, die Bilder erwecken den Eindruck, das Gehirn hätte begonnen, sich aufzulösen. Aber es sind ja keine Fotos, insofern ist das reine Spekulation, solange man nicht in den Schädel schauen kann.«
»Was vermuten Sie?«
»Der deutsche Kollege versicherte mir, er habe dem Patienten Kontrastmittel injiziert, um den Bereich für eine OP am
sulcus frontalis superior
zu kennzeichnen. Dies habe zu dem Fehlbild beim MRT geführt. Er hat verschiedene Mittel getestet und sich dann für
MyoTargetin N
entschieden. Davonsollen noch Spuren im Gehirn gewesen sein, als ich die Tomographien mit dem Patienten machte.«
»
MyoTargetin?«
»N«,
schob Brogli nach. »Hatte ich das erwähnt?
MyoTargetin
N
!«
»Welcher Buchstabe auch immer, mir sagt schon
MyoTargetin
nichts. Haben Sie es nachgeschlagen?«
»Nichts gefunden, ehrlich gesagt.«
»Vielleicht hat er es selbst entwickelt. – Faxen oder mailen Sie mir mal die Bezeichnungen aller Kontrastmittel, die der Mann ausprobiert hat. Ich leite es an Raschid al-Mahmudi weiter. Oder schicken Sie es ihm direkt, er lehrt derzeit in Osaka. Es gibt keinen Besseren in Sachen MR T-Kontrastmittel .«
»Ja, ähm … mal sehen.«
»Was sagt das Gutachten zu dem Mittel?«
»Er geht auf das Mittel nur noch mit einem Satz ein: Das
MyoTargetin N
habe mit der Todesfolge nichts zu tun.«
»Klar, er wird sich nicht selbst bezichtigen. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, Kollege Brogli. In meinem Land darf der behandelnde Arzt nicht gleichzeitig der Gutachter sein.« Er lachte.
»Ja, ja. Ich weiß. Ich hatte es so gesehen, dass ja ich der behandelnde Arzt war, und er eben der Spezialist für … na ja.«
Mogutin hustete, dass es im Hörer klirrte. »Was ist? Soll ich ein Gegengutachten verfassen? Ich bin aber kein Spezialist für …
na ja
«. Wieder lachte er.
»Das kann ich nicht machen. Der Kollege ist ein angesehener Mediziner. Er steht sogar auf der Shortlist für Stockholm, wird gemunkelt. Vielleicht hätte er den Preis schon erhalten, wenn ihm nicht damals eine Schmutzkampagne dazwischen gefunkt hätte. Jemand hatte ihn unethischerExperimente in Afrika beschuldigt. Er konnte das nach Jahren entkräften. Wenn ich nun angriffig Zweifel gegen ihn ins Feld führe, schade ich seiner Karriere vielleicht unwiderruflich.«
»Nobelpreis für die Callosotomie?«
»Ja«, sagte Brogli reflexartig und erfreut, verstanden worden zu sein. Dann bereute er seine Plauderei.
»Wo Sie Afrika erwähnen, war das nicht Zaïre, oder wie das Land in dieser Sekunde gerade heißt?«
»Demokratische Republik Kongo«, sagt Brogli, wieder automatisch.
»Der Genosse Eugen! Laschi von den
Zucker
-Bäckern! Na bravo!«
»Das muss unbedingt unter uns bleiben, Dmitrij.«
»Ich schweige wie Lenins Grab. Aber
Sie
sollten es an die große Glocke hängen, Carlo. Lascheter ist ein Verbrecher.«
»Nein, kommen Sie … Das ist … Er hat sich rehabilitiert.«
»Er konnte die Vorwürfe nicht entkräften, er hatte Anwälte, die gute – wie sagt man? – Nebelmaschinen hatten. Nein, Verbrecher nenne ich ihn, weil er mir meine beste – und hübscheste – Assistentin abspenstig gemacht hat: Noëlle. Sie haben sie, glaube ich, einmal mit mir getroffen, in Bukarest.«
»Der Kongress in Bukarest? 2009? Da war ich nicht.«
»Jedenfalls ist sie klug wie – ich. Und schön wie eine Zarenprinzessin. Einen
sinus mammarum
hat das Mädel, da wache ich noch heute schweißgebadet auf!«
»Dmitrij …!«
»Der IQ kann niemals so hoch sein, wie wir ihn bei ihr immer gestestet haben. Das heißt, sie hat den Test manipuliert. Und
das
heißt: Sie ist noch schlauer als ich, denn ich hab nie kapiert, wie sie das Ding gedreht hat.«
31
Die Dachfenster sahen aus, als habe jemand vom Dach aus Sand über sie gekippt und dann Wasser darüber verspritzt.
Ich komme zu nichts mehr, dachte Melina und öffnete sie beide, so weit es ging – das über dem Schreibtisch und das im Bad. Eine Amsel saß auf der Regenrinne und starrte Melina mit ihrem Knopfauge an.
Unter den Mails gab es nichts Neues von Lena. Ihr zweites Video hatte sie an ihren Vater und an die Institutsadresse geschickt.
Aber da war eine Nachricht von Jenissej.
Ich hätte mich selber an die Polizei wenden sollen.
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