Jung genug zu sterben
ansonsten aus dem Wohnzimmer zurück.
»Wir regen uns nicht auf«, sagte er. »Wir regen uns nicht auf.« Mit dem Mantra schaffte er es ins Arbeitszimmer, wo er sich über das Gutachten beugte und einen zunehmenden Appetit nach Rosinen verspürte.
»Ja – die Vorwahl von Leningrad bitte. Ach, ähm: Petersburg. – Ja. – Aha. Und zwei Nullen davor? – Gut, danke.« Erwählte gewissenhaft und hörte ein Tuten – viel näher als erwartet. Eine ärgerliche Männerstimme. »Hallo? Brooogli hier, Zürich. Können Sie mich bitte mit Professor Moooguuu-tiiin verbinden? Dmitrij Mogutin!? Mein Name ist Brogli, Zürich, in der Schweiz.«
»Ah!
Dobryi den’, Professor! Kak zhe ty, podlets?
«
»Ja … Ähm, danke. Schön, dass Sie selbst dran sind.«
»Ich dachte, Sie sind tot, Genosse Brogli?«
»Genosse …? Tot, nein, also … «
»Ewig haben Sie sich nicht gemeldet. Ich habe wirklich gedacht, Sie liegen in Schweizer Erde verbuddelt. Ich wollte mir schon Ihren Schädel sichern, für forensische Studien.«
»Ähm, Dmitrij … Dies ist ein Ferngespräch, und ich wollte Sie um Ihre fachliche Meinung bitten, in einem etwas diffizilen Fall.«
»Ja?«
»Ja … «
»Ich warte auf Ihren Aufschlag, Carlo Brogli!«
»Ach so, ja, also die Sache ist die: Sie haben doch sehr intensiv die Wirkung von
Levetiracetam
untersucht, nicht wahr? – Soll ich wiederholen?«
»
Levetiracetam,
ja, das ist aber schon Jahre her. Ein Hersteller wollte es unter neuem Namen in weiteren Ländern vertreiben, darum haben wir das Patent noch einmal großflächig durchgeprüft. Lukrativer Auftrag. Arabischer Raum, Nahost und so weiter. Ein sehr gut verträgliches Mittel gegen Epilepsie.«
»Ja, nicht? – Dmitrij, sind Ihnen irgendwelche Kontraindikationen bekannt mit Mitteln für die Analgo-Sedierung?«
Es grunzte in der Leitung. »Auf solche Fragen antworte ich nicht, Kollege. Nebenwirkungen gibt es immer und überall.«
»Aber letal? Es geht um letale Folgen.«
»Es gibt Leute, die beißen in ein Butterbrot und fallen tot um, Carlo! Das Schicksal an sich ist reichhaltig und vielgestaltig.«
»Ja, also, folgender Fall: Ein Patient, sechzehn Jahre, männlich, leidet offenbar an Epilepsie. Er erleidet einen Anfall, fällt und stürzt einen Hang hinab. Innere Verletzungen, die aber konservativ behandelt werden können. Die Notfallstation in Samedan verabreichte eine Minimaldosis
Levetiracetam
… «
»Kein Problem. Das Zeug ist ab sechzehn zugelassen.«
»Das weiß ich. Aber wegen der Verletzungen wurde der Junge sediert, und zwar mit
Midazolam
und
Flumazenil
.«
»Hm. Mit
Flumazenil
müssen Sie vorsichtig sein bei Epileptikern.«
»Auch das weiß ich, Dmitrij. Den Epilepsie-Pass hatten die Unfallkollegen bei dem Jungen gefunden und konnten deshalb sofort das Antiepileptikum geben. Sie haben aber die Warnung darin übersehen, dass er gegen viele Antiepileptika allergisch ist. Es war eine eher unglückliche Formulierung … «
»Bei uns ist noch keiner von den Allergikern an
Levetiracetam
abgekratzt.«
»So. Auch nicht im Zusammenspiel mit Sedativa und Analgetika?«
»Analgetika? Wieso …? Ach so, weil
Midazolam
nicht schmerzhemmend ist. Was haben Sie denn gegeben?«
»Tja, das ist das Dumme: An diesen einen Punkt können sich die Unfallkollegen nicht erinnern. Da hat wohl die Sanität schon etwas verabreicht. Das Hospital nicht mehr, und leider haben wir nichts dazu im Protokoll.«
»Dann kann ich nur eines sagen, Carlo: Möglich ist alles.Aber wenn ihr vorsichtig sediert habt, mit sorgfältiger Titration, müsste die Wahrscheinlichkeit einer letalen Unverträglichkeit äußerst gering sein.
Nicht wahr? – Ich habe hier ein Gutachten, von einer Kapazität verfasst. Zugleich der behandelnde Arzt des Jungen. Er schreibt, der Patient habe – Zitat – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen allergischen Schock erlitten. Er sei sowohl gegen Antiepileptika als auch gegen Sedativa und Analgetika allergisch, und erst recht in dieser Kombination.«
»Klingt für mich nicht nachvollziehbar, aber Einzelfälle gibt es immer. Klagen die Eltern?«
»Nein, ich glaube nicht. – Wir haben auch sofort aufgehört, Antiepileptika und Schmerzmittel zu geben, auch die Sedierung wurde weit zurückgefahren. – Was mich besonders wundert, Dmitrij, ist das, was La- … was der Gutachter nicht anspricht: Ich hatte bei der MRT festgestellt, dass das Gehirn des Patienten ein eindrückliches Bild
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