Jung genug zu sterben
S: Frau Lüttich, noch eine Frage: In meiner Kartei stehen
Sie als Jugendleitungs-Anwärterin. Ist das noch aktuell? Den
Angaben zufolge haben Sie bei uns noch nie eine Tätigkeit als
Jugendgruppenleiterin ausgeübt. Da ich neu in diesem Bereich
bin, wäre ich dankbar für einen Hinweis, ob die Karteikarte
veraltet ist.
Was wollte ich machen?, fragte sich Melina. Ach ja, die Mail an Jenissej schreiben. Aber die Zeilen, die sie schon geschrieben hatte, ließen sich einfach nicht lesen. Sie sah den Text, mit dem sie begonnen hatte, aber außer
Sehr geehrter
Jenissej
erreichte nichts davon ihr Gehirn.
Sie stand auf und legte sich auf das schmale Bett, das sie wie an jedem Morgen durchgeschüttelt und gemacht hatte. Jetzt steckte sie das Gesicht ins Kissen, als sei es nicht mehr erforderlich, Luft zu holen. Als das nicht weiter ging, warf sie sich auf den Rücken. Sie bemerkte, dass ihre Hände neben ihrem Körper anfingen, das Laken glatt zu streichen.
Ordnungsfimmel. Oder der Versuch, ein aufgewühltes Innenleben zu glätten. Ich reflektiere. Und reflektiere. Und befasse mich nicht mit dem, was eben passiert ist.
Sie brauchte noch zwei Ganzkörperwendungen. Dann sprang sie aus dem Bett und nahm das Telefon ins Visier. Sie rief Jenissej an und forderte ihn auf, sich mit ihr im Institut zu treffen. Und sofort loszufahren. Unauffällig solle er sich kleiden.
Melina verließ die Wohnung in der Jüdenstraße. Als sie an der Nikolaikirche vorbeikam, zog es sie trotz der Eile zueinem der äußeren Strebepfeiler. In der Mauer steckte eine Kanonenkugel.
Die habe ich auf meinem ersten Spaziergang entdeckt, dachte sie. Gleich, als ich in die Wohnung gezogen bin. Wollte immer klären, was es mit dieser halb aus der Wand herausschauenden Kanonenkugel auf sich hat. Sie sah eine kleine Texttafel, aber da hatte sie schon keine Geduld mehr.
Wenn ich nicht mehr in das Institut hineinkomme, was ist dann mit Lena? Ein heißer Schreck im Magen: Dann sehe ich auch ihre neuen Mails nicht. Na gut, da ist noch Jenissej. Aber wenn ich nicht aufpasse, vergisst er es.
Im Bus fragte sie sich, wo sie bleiben sollte. Zurück zu Dominus und Domina? Als 2 3-Jährige zu Hause anklopfen wie eine Gescheiterte? Auf keinen Fall! Eine WG … Mit wem denn? Vielleicht, wenn ich mich nicht so anstelle, dann könnte es eine Weile gehen. – Nein. Geht nicht. Auf gar keinen Fall.
Aber das waren die Gedanken einer anderen. Sie kamen nicht an Melina heran, bleiben hinter einer Milchglasscheibe. Im Moment jedenfalls.
Wieso sind sie beide neu? Der Verwaltungs-Chef im Institut
und
dieser Müller im PALAU?
Napoleon. Die Kanonenkugel muss von Napoleons Truppen stammen.
32
Melina hatte sich für einen Seiteneingang entschieden, etwa zwanzig Meter neben der Ein- und Ausfahrt Nummer 2 für Ambulanzen und Lieferfahrzeuge. Dazu brauchte sie ihre Keycard, denn sie wusste, es gab keine Kameraaufschaltung an dieser Stelle.
Noch nie hatte sie vor dem
Institut Zucker
gestanden und gewartet. Zum Warten gab es das geräumige Foyer, das großzügig mit Kameraaugen ausgestattet war.
Der nächste Bus kam heran, hielt aber nicht. Ein silberner Kleinbus bremste scharf und stellte sich quer auf den Bürgersteig – der Fahrer telefonierte. Ein Windhund, ein echter Windhund, trabte heran, inspizierte ein Straßenbäumchen und ließ es voller Verachtung links liegen. Zwischen parkenden Autos auf der anderen Straßenseite schlich ein Typ mit weißer Baseballmütze herum. Melina konnte nicht sehen, ob er sich an den Türen und Fenstern der Wagen zu schaffen machte, aber weit entfernt war er nicht davon.
Das liegt in der Familie!, schimpfte sie innerlich. Lena versetzt mich, und jetzt ihr Vater.
Der Blick auf die Armbanduhr war nur dazu gut, ihre Pulsfrequenz zu erhöhen.
Quatsch, Lena hat mich ja diesmal nicht versetzt, sie hat …
Die Baseballmütze war direkt hinter ihr. Sie spürte den Atem des Mannes. Adrenalin aktivierte alle ihre Muskeln gleichzeitig.
»Können wir?« Der Typ hauchte.
Melina wusste gar nichts.
Unter der Schirmmütze – war das Gesicht von Jenissej. »Ich sollte unauffällig herkommen. Gehen wir?«
Melina schob ihn und sich hinein.
»Was soll denn das?«, fragte sie drinnen barsch. Die Härte ihrer Stimme hatte etwas Befriedigendes. Sie sah schnell an Jenissej hoch und runter. Turnschuhe in Orangerot, weiße Hose, beigefarbene Lederjacke. »Auffälliger geht’s wohl nicht?«
»Offenbar hast du nicht mit mir gerechnet, Melpomene.
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