Jung genug zu sterben
der Erzieher, mischte sich erneut ein. »Das sindnur Gerüchte. Weiterhin laufen Versuche, ein Konsortium zu bilden, in dem die evangelische und die katholische Kirche gemeinsam die Mehrheit bilden. Keine von denen will so ein Mammutprojekt alleine schultern. Achtzig Hektar Grundstück, weißt du, was das heißt, Melina? Die ganzen Anlagen, Gebäude, das Krankenhaus … «
»
Enceladus
ist schneller«, stellte Kira mit betonter Sachlichkeit fest. »Die Kirchenfuzzis einigen sich eh nicht. Ich hab auch keine Lust, hier als Betschwester rumzutänzeln.«
Lachen im Chor.
»Zuschüsse von Staat und Kirche«, sagte Claas. »Stiftungen und Spenden. Der private Betreiber hat damit spekuliert, dass er das PALAU an eine Kirche verkaufen kann, für einen Euro. Aber blöd sind die ja auch nicht.«
»Hatte denn der Betreiber jemals mit Gewinnen rechnen können? Ich meine: betreutes Wohnen und Palliativmedizin … Nimmt man da was ein?«
»Ja, natürlich mit Mischkalkulation. Manche Bereiche machen Minus, andere sollten Plus einfahren. Man hat damit gerechnet, einen Teil von den Krankenkassen zu bekommen, aber auch solvente Patienten und Mieter zu haben. Einige Wohnungen hier sind sehr chic, und man muss nicht krank sein, um sie zu nutzen. Dann ist da das Seehotel, das öffentliche Restaurant und die Läden, die Eigenprodukte verkaufen. Steuern und Spenden – das sollte eine weitere Quelle sein. Aber die sprudelt nicht.«
Kira ging dazwischen. »Hinter
Enceladus
steht die Mafia. Die haben auch Supermarktketten und Kirchen gekauft.«
»Übertreib nicht immer, Kira«, sagte Claas.
»Wenn’s so ist!«, protestierte sie lautstark. »Vielleichtnicht die Mafia in Italien. Aber woanders gibt’s ja auch … Mafias? Mafien!«
»Muffins!«, sagte Ben, und alle lachten bereitwillig.
»Kirchen?«, fragte Melina.
Claas zuckte mit den Schultern.
30
Professor Carlo Brogli rührte in der weißen Flüssigkeit.
Sie können sich ja nicht aufgelöst haben. Irgendwo müssen sie sein.
Aber alles, was der Löffel zum Vorschein brachte, war nur Milch.
Es müssen mindestens noch drei Rosinen sein! Ach, lass es! Wenn ich das Zeug nur wegen der Rosinen esse, sollte ich einfach in die Küche gehen und mir welche holen.
Als der Umschlag am Morgen gekommen war, hatte Brogli ihn ungeduldig aufgerissen und den Text überflogen, beginnend mit der letzten Seite. In seinem erstaunlich fix gefertigten Gutachten zu Jan Sikorskis Unfall und Tod in der Schweiz nahm Professor Lascheter keine direkte Schuldzuweisung vor. Weder die Ärzte in Samedan noch er, Brogli, mussten sich einem Vorwurf ausgesetzt sehen. Brogli merkte, dass er sich in den vergangenen Tagen doch Sorgen gemacht hatte. Andererseits war nach dem Überfliegen ein merkwürdiges Gefühl eingetreten – einige Fragen waren nicht beantwortet. Aber die genaue Lektüre würde das aufklären. Wer weiß, dachte er, womöglich sind zwischen den Zeilen doch Anklagen versteckt.
Er klemmte den Umschlag und die Textseiten unter den linken Arm und schüttelte mit der rechten Hand die Packung mit der Cornflakes-Mischung. Nur einige Körner rieselten heraus und fielen einsam in die Milch.
Die Öffnung ist zu eng!
Professor Brogli zerrte an dem Plastikbeutel, der in derPackung die Cornflakes mit Rosinen enthielt. Das Loch oben war gerade mal drei Zentimeter aufgerissen. Stülpte man das Ganze um, versperrte die Masse logischerweise den Ausgang. Mit der Rechten hielt er die Packung aus Pappe, mit der linken, etwas angewinkelten Hand versuchte er, die Öffnung zu dehnen.
Aber sie gab nicht nach.
»Ja, was soll jetzt … « Er fluchte und intensivierte die Kraft in seinen Fingern – der Daumen und der Zeigefinger verrichteten das Hauptwerk. Endlich schien sich etwas zu bewegen.
Da riss die Plastikfolie, und die darin unter Spannung stehenden Flakes und Körner und durchaus auch die Rosinen explodierten in einem Feuerwerk, das sogleich im Wohnzimmer herniederrieselte und farblich eine interessante Note auf dem eintönig blassbeigen Velourboden abgab.
Er konnte gerade noch verhindern, dass die Schale mit der Milch hinterherkippte, gegen die er im Schreck gestoßen war. Da war es zu verschmerzen, dass er so heftig auf den Löffel langte, dass der im Bogen in die Sammlung von Honoré de Balzacs Meisterwerken flog und die Lederrücken mit einigen Tropfen Milch besudelte.
Brogli, der Balzac nicht sonderlich schätzte, entfernte trotzdem die Milchflecken mit dem Finger, zog sich aber
Weitere Kostenlose Bücher