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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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weitergegeben werden. Ob sie aber dominant ist und tatsächlich zu Tage tritt, lässt sich noch nicht vorhersagen.«
    »Bei Hesther, meiner Frau, hieß es, nur Erwachsene werden schizophren.«
    Melina nickte. »Bei den meisten Männern wird die Krankheit etwa mit 24 diagnostiziert, bei den meisten Frauen mit 26, 27.   In wenigen Fällen lassen sich die ersten Symptome schon mit zwölf feststellen. Unbestritten wird Schizophrenie erst ab der Pubertät auffällig«
    »Hat man bei Lena so was festgestellt?«
    Sie lächelte. »Nein. Es gibt noch keine Methode, Schizophrenie im Prodomalstadium zu diagnostizieren. Doktor Schurz entwickelte Tests, mit denen sie eine Diagnosemethode finden wollte. Leider ist sie vor einem Monat nach Pittsburgh zu Professor Lewis gegangen. Er ist weltweit führend auf dem Gebiet. Und Professor Lascheter, der für diesen Bereich bei uns verantwortlich ist, hat die Stelle nicht neu besetzt. Dieser Forschungszweig ist weggebrochen.«
    »Wozu braucht man Befragungen? Ich denke, ihr habt tausend Tomographen, mit denen ihr durch die Gehirne fahren könnt.«
    »Ja   … Wollen Sie das so detailliert wissen, Jenissej?«
    »Ich habe bis heute nicht verstanden, was das für eine Krankheit war, die Hesther in Beschlag nahm. Wenn ihr hier eine Antwort habt, wie Schizophrenie entsteht, würde ich sie gern hören. Aber vor allem will ich wissen, was Lena treibt. Mach schon!«
    Sie schaltete einen Bildschirm an. Für Jenissej sah es aus, als zappe sie sich durch Fernsehkanäle. Menüleisten, Bildervon Gehirnen, Querschnitte. Wieder ein Gehirn. Das Hirn war blau wie ein Meer. Darin gab es grüne und gelbe Atolle mit roten Bergspitzen.
    »Das ist das Gehirn eines 3 5-jährigen Patienten mit Schizophrenie im Anfangsstadium.« Im nächsten Bild war das Meer zum Roten Meer geworden. »Das ist derselbe Patient, sieben Jahre später. Die überwiegend rötliche Färbung markiert Areale, in denen Hirnzellen irreparabel abgestorben sind.«
    »Große Show! – Ich wusste nicht, dass das Gehirn bei Schizophrenie abstirbt.«
    »Man weiß seit einigen Jahren, dass das schizophrene Gehirn die Nervenzellenverbindungen zerstört. Aber das ist normal, es gehört zum großen Umbau während der Pubertät: Verbindungen, die schwach sind, weil sie selten benutzt werden, fallen weg. Das passiert bei jedem Menschen. Altes wird durch Neues ersetzt. Man dachte, bei Schizophrenen werden auch die starken, leistungsfähigen Synapsen beseitigt – sozusagen aus Versehen, in einem Abwasch.«
    »Aber?«
    »Offenbar setzt der Angriff auf die starken Synapsen erst ein, wenn es keine schwachen Synapsen mehr gibt.«
    »Dann macht diese   … zerstörerische Kraft einfach weiter?«, fragte Jenissej.
    »Oder die angeblich starken Synapsen sind bei Schizophrenen gar nicht so stark, wie sie sein müssten. Vielleicht wurde in der Kindheit einfach nicht erkannt, wie schwach
alle
Synapsen sind. Denn als Kind hat man sehr viel mehr davon als später. In der Masse sind sie dann zusammen doch recht leistungsfähig. Wenn nun aber schon ein Großteil ausgemerzt wird, fällt die Schwäche der restlichen Synapsen auf. Und weil sie schwach sind, werden die Verbindungenimmer weiter gekappt. – Eine Theorie von David Lewis. Aber ob das stimmt, wissen wir noch nicht.«
    Jenissej deutete fragend auf das Bild mit dem Gehirn.
    »Unsere Geräte können das nicht aufklären. Wir sehen darauf keine Synapsen oder Nervenzellenverbindungen. Wir sehen das Echo ihrer Aktivitäten.«
    »Ihr wisst also,
dass
es passiert, aber nicht
weshalb

    »Man muss das Gehirn öffnen und hineinschauen. Bei einem lebenden Patienten verbietet es sich. Deshalb brauchen wir Affen. Die Physiologie gerade der Stirnregion ähnelt der von Menschen. Aber wie findet man einen schizophrenen Affen? Man kann sie nicht in Hundertschaften einkaufen.«
    Jenissej lachte und wurde sogleich wieder nachdenklich. »Und was sieht man im Gehirn, wenn man es aufschneidet?«
    »Lewis hat bei Verstorbenen nachgewiesen, dass die Pyramidenzellen im DLPFK kleiner sind als bei gesunden Vergleichshirnen, und die Dendriten haben weniger Dornen. – Der DLPFK ist der dorsolaterale präfrontale Kortex.« Sie tippte sich dabei an die Stirn, als wolle sie Jenissej einen Vogel zeigen. »Dieser kleine Bereich in der Stirnhirnrinde koordiniert alle unsere Gedanken und unsere Gefühle und bringt sie zusammen mit dem, was wir als Wissen und Erfahrung gespeichert haben. Er setzt aus alldem ein Gesamtbild zusammen. Das

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